05.11.2024 – Konzert – BR-Klassik – Ulrich Habersetzer — – Details
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Joachim Kühn
Tasten, Tränen und singende Sägen – mit außergewöhnlichen und perfekt harmonierenden Bands sowie einem aufwändigen Community-Projekt überzeugte die Jubiläumsausgabe zum 60. Geburtstag des Jazzfests Berlin. Wir blicken zurück auf das renommierte Festival, das dieses Jahr vom 31. Oktober bis zum 3. November 2024 ging. — Das Klavier als Orchester, das Klavier als Harfe in einer Schachtel und das Klavier als 88 gestimmte Trommeln – all diese Klangwelten könne Marilyn Crispell dem Klavier entlocken. Alexander Hawkins, englischer Pianist und Künstler beim Jazzfest Berlin 2024, kündigte so die amerikanische Pianistin an und gab damit dem Jazzfest schon ein inoffizielles Motto: Herausragende Tastenmusik. Die gab es häufig zu erleben bei der diesjährigen Ausgabe des traditionsreichen und richtungsweisenden Festivals.
Marilyn Crispell nahm sich in ihrem Soloauftritt die Freiheit, elegante, fast liebliche Melodien und kantige Wucht zu kombineren. Solo konnte sie ihre große Klasse viel deutlicher zeigen als tags darauf mit dem Trio Tapestry. Hier ging es um eine dahinfließende Tonerzählung, die über eine Stunde hinweg vom griffigen, aber auch überraschend wehmütigen Ton des amerikanischen Saxofonisten Joe Lovano getragen wurde. Marilyn Crispell am Klavier und Schlagzeuger Carmen Castaldi durften begleiten, Lovano durfte erzählen. Das Wort «Gottesdienst» fiel immer wieder, wenn über dieses Konzert gesprochen wurde. — Eine wirkliche Predigt gab es auch beim Jazzfest Berlin 2024. Zur ersten Ausgabe des Festivals im Jahr 1964 schrieb Martin Luther King Jr. ein bewegendes Grußwort. «Alle haben den Blues, alle sehnen sich nach Sinnhaftigkeit. Alle wollen lieben und geliebt werden (…) In der Musik, insbesondere in diesem breit aufgestellten Genre namens Jazz, liegt das Sprungbrett dahin», waren die letzten Zeilen dieses Textes. 60 Jahre später knüpfte der amerikanische Schlagzeuger John Hollenbeck mit einem interessant besetzten Ensemble daran an. Er vertonte Kings Predigt von 1968 zu einer Bibelstelle aus dem Markus-Evangelium. «The Drum Major Instinct», so heißt Hollenbecks Projekt, wo er Musik mit der Rede Kings verbindet. — King referiert, dass Menschen das Bedürfnis haben, die erste Geige zu spielen, man aber anstreben sollte, in Sachen Liebe und Mitgefühl ganz vorne dran zu sein. Die packenden Worte Kings wurden eingespielt und eingeblendet, Hollenbecks Ensemble, einmal mit drei Posaunen und Schlagzeug, einmal mit Klavier, Akkordeon, Gitarre und Vibraphon besetzt, untermalte die komplette Predigt einmal mit kraftvollen und einmal mit zarten Klängen. Beim dritten Abspielen der Rede kamen beide Klangwelten zusammen. — Je nach musikalischem Background klangen Kings Worte verzweifelt, hoffnungsvoll oder kämpferisch. Die drei jeweils rund 20-minütigen Parts wurden durch Videoeinblendungen mit Konzertaufnahmen von früheren Jazzfest-Ausgaben unterbrochen. Das führte insgesamt zu einer langen Performance, die aber mit ihrer berührenden Botschaft fesselnd war und sehr gut zum Motto des Jazzfests passte: «Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft». Im umfangreichen Begleitprogramm gab es zusätzlich zu den Konzerten Vorträge und Gesprächsrunden.
Tastenmagie mit Joachim Kühn und seinem French TrioDer große Herzensmoment mit der ein oder anderen verdrückten Träne stammte von einer deutschen Klavierlegende: Joachim Kühn. Der 80-jährige durfte am Samstagabend zur Primetime des Jazzfests auftreten und sein neues French Trio mit Bassist Thibault Cellier und Schlagzeuger Sylvain Darrifourcq zum ersten Mal live auf der Bühne präsentieren. Das charakteristische Tastenwühlen Kühns war zu erleben, seine überbordende Kraft, seine eruptiven Tonexplosionen. Aber Joachim Kühn zeigte auch eine zarte Leichtigkeit, beiläufig bezaubernd und genau deshalb besonders intensiv. Nach packenden 60 Minuten trat der kürzlich mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Musiker ans Mikrofon und dankte dem Berliner Publikum, das Kühn schon bei seinem ersten Berlin-Gastspiel 1966 in der Band mit seinem Bruder Rolf, dem großen Klarinettisten, gefeiert hatte. Jedes Jahrzehnt hatte Joachim Kühn einen Auftritt beim Festival und heute sei «nach 58 Jahren der letzte». Gerührt erklatschte sich das Berliner Publikum daraufhin eine zu Herzen gehende Zugabe.
Nicht nur Kühn auf der Bühne, auch kühn in Sachen Vermittlungsarbeit trat das Jazzfest Berlin dieses Jahr auf. Als ihr «vielleicht bedeutendstes Projekt» bezeichnete die künstlerische Leiterin Nadin Deventer das «Jazzfest Community Lab Moabit». Musiker:innen des Festivals gingen aktiv in soziale und kulturelle Einrichtungen im Berliner Stadtteil Moabit und erarbeiteten in Projekten Musik. Ein syrischer Frauenchor, ein Hip-Hop-Jugendprojekt, eine eigens initiierte Kinder-Gesangsgruppe, all das wurde auf lockere, aber engagierte Art unterstützt. Insgesamt 350 Mitwirkende gab es hier. Projekte ähnlicher Art waren in den letzten Jahren auch zu erleben, allerdings immer im Umfeld des Hauses der Berliner Festspiele im Stadtteil Wilmersdorf. Die Idee, dorthin zu gehen, wo die Menschen leben, führte in diesem Jahr zu einem besonders stimmigen Ergebnis, das war beim Abschlusskonzert des Community Labs in der Reformationskirche in Moabit für alle spürbar. — Ein weiteres Highlight auf der großen Bühne war der Auftritt der kanadischen Pianistin Kris Davis und ihrer Band «Diatom Ribbons». Der in Berlin lebende amerikanische Bassist Nick Dunston, Val Jeanty an den Turntables sowie Starschlagzeugerin Terri Lyne Carrington gehören zu diesem Quartett, in dem Davis neben dem Flügel auch Fender Rhodes Piano spielt. «A Groovy Thing» nannte sie das Projekt im Interview und so war auch die Musik, allerdings auf einem unvorstellbar hohen und äußerst abstrakten Kommunikationsniveau. Komplexe Themen wurden mit freien Passagen kombiniert, geplante und aus dem Moment entstehende Musik überlagerte sich, alles griff perfekt ineinander und strahlte trotzdem großen Freiheitsdrang aus. — Geräuschgeschichte zu einem einsamen SeglerFreiheitsdrang hatten auch die Ensembles, die allesamt zum Schweden-Schwerpunkt beim Jazzfest auftraten. «Anna Högberg Extended Attack» war dasjenige, das am meisten zu fesseln verstand. Eine Ton- und Geräuschgeschichte zu einem einsamen Segler erzählte die zurückgezogen lebende schwedische Altsaxofonistin mit ihrer 12-köpfigen Band, in der neben Blasinstrumenten, zwei Bässen, Klavier und Gitarre auch zwei singende Sägen und Turntables zu hören waren. Mal gruselig-düster, mal positiv-fröhlich klang diese tönende Schiffsreise. — Das «Sun Ra Arkestra» spielte überraschend swingendBunt und schräg waren die beiden anderen Großbesetzungen des Jazzfests: Skurril, schillernd, auch in den Outfits, wie die Reiseausgabe des kultigen «Sun Ra Arkestra», das erstaunlich swingend spielte. Die große Überraschung lieferte aber der 65-jährige japanische Gitarrist Otomo Yoshihide mit seiner Bigband. Freejazzig, krachrockig und schmalzig war die Musik des 16-köpfigen Ensembles, das im Rahmen einer Europatournee in Berlin auftrat. Ein Jazzfest-Abschluss mit Knalleffekt, dem zwei intensive Konzerte vorgelagert waren. Das komplex-druckvolle Projekt «fLuXkit Vancouver» des amerikanischen Saxofonisten Darius Jones, und die Premiere des neuen Quartetts der Schweizer Pianistin Sylvie Courviosier, das komplizierte Kompositionen auf locker-witzige Art darbot. — Mehr als 9.000 Menschen beim Jazzfest BerlinDie Jubiläumsausgabe des Jazzfests Berlin zum 60. Geburtstag zog insgesamt mehr als 9.000 Menschen an. Es war ein sehr schlüssiges Festival mit genussvollen Konzertstrecken und starken Klängen, die ihre Botschaft vielleicht leiser, aber deshalb nicht minder kraftvoll mitteilten. Ein Jazzfest, das oft die amerikanische Tradition dieser Musik betonte, gleichzeitig aber mit dem Community Lab den Grundstein für eine andauernde und nachhaltige musikalische Zusammenarbeit mit Menschen in Moabit gesetzt hat. 2024 hat Nadin Deventer einen sehr guten Groove für ihr Festival gefunden, gut, dass sie auch die nächsten Jahre in Berlin grooven wird! —
SK-hehitt