03.09.2022 – News – Spiegel Online – Christina Hebel — – Details
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Michail Gorbatschow
Es war eine vergleichsweise kleine Trauerfeier: Der Leichnam von Michail Gorbatschow am Samstag in Moskau im Haus der Gewerkschaften – traditionell wurden dort die Särge der Sowjetführer nach ihrem Tod aufgestellt. Hunderte Menschen verabschiedeten sich vom letzten Staatspräsidenten der Sowjetunion – der Andrang am Einlasse war groß.
— Christina Hebel, SPIEGEL-Korrespondentin — »Bis nach dem Mittag versammelten sie sich hier, um zu warten, dass sie vorgelassen werden können, um Abschied zu nehmen, Blumen niederzulegen, auch Worte des Dankes an ihn zu richten. Das Interessante ist, dass diese Menschen hier das Gute, das Positive hervorheben, was sie an ihm sehen. Eine Meinung, die es hier in Russland nicht so häufig gibt. Die Mehrheit der Menschen, mit denen ich auf der Straße gesprochen habe, machen Gorbatschow dafür verantwortlich, dass er das Land in ein Chaos geführt hat in den Neunziger Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion, nach dem Ende des Kommunismus – wirtschaftliches Chaos, aber auch Chaos mit kriminellen Banden. Das verzeihen sie ihm nicht, sie nennen ihn zum Teil sogar einen Verräter. Aber heute ist es hier ein Gegenschnitt. Es sind andere Menschen, ist ein anderer Teil der Gesellschaft ist hier, der ihm danken möchte, für das, was er dem Land gegeben hat: Er habe ihnen die Freiheit gebracht, er habe ihnen die Möglichkeit gebracht, die Welt zu öffnen, das Land zu öffnen, haben mir hier Menschen erzählt. Sie verbinden mit Gorbatschow vor allem Frieden und Freiheit. Etwas, was mir eine Frau sagte, heute nicht mehr so ist in diesem Land.« — — Auch der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán erwies Gorbatschows die letzte Ehre. Andere führende Politiker aus Europa waren vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs nicht angereist. Deutschland wurde durch den Geschäftsträger der Botschaft in Moskau vertreten. Anders als etwa der ehemalige russische Präsident Boris Jelzin erhielt Michail Gorbatschow kein Staatsbegräbnis – und der aktuelle russische Staatspräsident blieb der Zeremonie fern.
— Christina Hebel, SPIEGEL-Korrespondentin — »Wladimir Putin nahm heute hier nicht an der Trauerfeier teil, was viele, die sich hier versammelt haben, ihm durchaus übelnehmen. Aber Putin sieht Gorbatschow als einen, der die Sowjetunion, die Sowjetmacht zerfallen, zerbrechen lassen hat. Er spricht von einer Katastrophe, und das eben merkt man hier auch den Teilnehmern hier an der Trauerfeier, es sind kaum offizielle Vertreter des Staates hier. Es sind vor allen Dingen normale Menschen gekommen, Menschen der Opposition, wobei es eben halt auch sehr wenige sind, denn viele sind bereits im Exil oder im Gefängnis, weil sie auch diesen Krieg gegen die Ukraine kritisiert haben.« — — Wladimir Putin hatte Gorbatschow bereits am Donnerstag die letzte Ehre erwiesen und seine Absage mit Terminschwierigkeit begründet. Michail Gorbatschow war am Dienstag im Alter von 91 Jahren gestorben. Er gilt als wichtiger Wegbereiter der deutschen Einheit. Gorbatschow soll auf dem Moskauer Prominentenfriedhof am Neujungfrauenkloster bestattet werden – neben seiner Frau Raissa.
SK-