23.06.2023 – Jazz – WDR 3 – Thomas Mau / Stefan Hentz — – Details
Peter Brötzmann
Frankfurt-Höchst, irgendwann in den 70er-Jahren: Ein Mann betritt mit wuchtigem Schritt die Bühne der Jahrhunderthalle. Groß ist er und stattlich, die Haare sind zur kurzen Bürste geschnitten, die Wangen bedeckt ein voller Bart. Unterm Arm trägt er ein erlesenes Sortiment von Saxofonen und Klarinetten, großen und kleinen, verschlungenen, gebogenen, geraden, glänzenden und stumpfen, das er auf der Bühne ausbreitet. — Dann greift er eines der größeren Instrumente, ein Tenor- oder Baritonsaxofon, und beginnt zu spielen. Angekündigt ist ein Jazzkonzert, man hat von diesem Brötzmann gehört, der so unerhört furios spielen soll und ganz anders als alle anderen, man war auf vieles gefasst, doch was man nun hört sind einfache Melodielinien, irgendwie vertraut, kindlich und naiv, doch dann, wie in Zeitlupe, ein Schritt nach dem anderen, zersplittern die Melodien, explodieren die Sounds, laden sich auf mit Reibungsenergie, werden laut, heiß, dissonant und scharf. Peter Brötzmann, ganz allein, entfaltet das Panorama seiner musikalischen Welten: wo definierte Töne waren, zerfasern sie nun in Spaltklängen, Überblaseffekten, dissonanten Sounds, sein Spiel schneidet in die holzschnittartigen Melodien, lässt die Späne fliegen, zersetzt den Zusammenhalt des Banalen in einem Taumel der Frequenzen, einem Sog von Intensität. Der Vorgang wiederholt sich noch einige Male in unterschiedlichen Tonlagen mit unterschiedlicher Instrumentenwahl, bis die Zuhörer in der Jahrhunderthalle erschöpft nach einem kathartischen Musikerlebnis, das zumindest bei einigen unter ihnen lebenslange Spuren hinterlassen hat, ihrer Wege gehen. — In den rebellischen 60er-/70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als der Jazz sich weltweit auffächerte und auch in Europa Spielformen hervorbrachte, die sich von den Gepflogenheiten seiner afroamerikanisch geprägten Entstehungsgeschichte meilenweit entfernte, war Peter Brötzmann, geboren am 6. März 1941 in Remscheid, einer der Kristallisationspunkte eines deutschen innerhalb des genuin europäischen Free Jazz. In seiner Jugend zunächst noch stärker an Kunst interessiert als an Musik, war der junge Brötzmann sehr fasziniert vom Jazz auch der Altvorderen. Als 16-Jähriger begann er ohne die Umschweife irgendeiner formalen Ausbildung in einer Dixieland-Kapelle Klarinette zu spielen. Später wechselte er zum Tenorsaxofon, doch alle seine Schritte folgten seinem eigenen Kompass. Als musikalischer Autodidakt blieb er ein Sonderfall in der Jazzszene, ganz besonders in der deutschen, wo Kollegen wie Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach, Manfred Schoof ganz selbstverständlich die klassische Ausbildung im Gepäck führten – ein Saxofonist, der vielleicht nicht über die technischen Fertigkeiten verfügte, alles auf Abruf spielen zu können und genau deshalb eine individuelle Klangsprache entwickelte, wie sie kein anderer hätte spielen können. Diese eigene Klangsprache machte Brötzmann zu einem der bedeutendsten Instrumentalisten und Musik-Konzeptualisten seiner Zeit. — Mit 18 ging Brötzmann an die Werkkunstschule nach Wuppertal, wo er Malerei und Werbegraphik studierte und ziemlich schnell in die Rufweite des aus Korea stammenden Medienkünstlers Nam June Paik und der Fluxus-Bewegung geriet, deren mediale Grenzen überschreitende Radikalität er auch auf seine Musik übertrug. Paik brachte Brötzmann zusammen mit Avantgardisten aus dem Lager der neuen Musik, mit der elektronischen Musik von Karlheinz Stockhausen, mit der für die Unbestimmtheit des Zufalls aufgeschlossenen Radikalität von John Cage, mit dem Minimalismus von LaMonte Young. In Wuppertal war es auch, wo er mit dem Bassisten Peter Kowald einen Musiker traf, mit dem zusammen er seine Schritte aus den Fesseln von Tonalität und festem Puls entwickeln konnte, und während die wohlausgebildeten Kollegen von der Kölner Musikhochschule die Musik der beiden Wuppertaler Musiker bei einem lokalen Festival mit Lachen quittierten, waren es US-Kollegen wie der Saxofonist Steve Lacy oder der Trompeter Don Cherry, die die Ernsthaftigkeit von Brötzmanns Musik erkannten und ihn in seinem Tun unterstützten. — Der endgültige Durchbruch folgte im Mai 1968, als Brötzmann mit einem Oktett, das man als Speerspitze des europäischen Free Jazz verstehen konnte, in einem kleinen Club in Bremen sein zweites Album einspielte: «Machine Gun» – eine Explosion der Klänge, ungestüm, aggressiv, überwältigend laut. In einer Zeit des Aufruhrs, in der die jüngere Generation, zu der auch Peter Brötzmann gehörte, die Aufarbeitung des Faschismus auf die Tagesordnung setzte und gegen den Vietnamkrieg protestierte, konnte dieses Album kaum anders verstanden werden als ein Manifest des Widerstands. Ob gewollt oder nicht – Brötzmann selbst äußerte sich da durchaus widersprüchlich – war Machine Gun sehr gegenwärtig: Musik zur Zeit. Als die Berliner Jazztage im gleichen Jahr ein ursprünglich geplantes Engagement seines Oktetts widerriefen, gehörte Brötzmann zu den Initiatoren des Total Music Meeting, das dem Free Jazz und seinem nonkonformistischen Habitus vier Jahrzehnte lang parallel zu den Jazztagen eine alternative Bühne in Berlin bereitete. Auch an der Gründung des Labels FMP im folgenden Jahr war er initiativ beteiligt. — Über die Jahre zog Peter Brötzmann immer weitere Kreise. Über örtliche, regionale, nationale Grenzen hinaus knüpfte er Netzwerke, integrierte immer wieder neue Musiker aus aller Welt mit neuen Klangideen und Improvisationsmethoden in seinen musikalischen Kosmos und entwickelte sich zu einem Weltbürger der improvisierten Musik, dessen Name in Chicago, Oslo, Tokio vielleicht noch heller leuchtete als in seinem heimischen Wuppertal. Immer wieder kreierte er neue Spielkonstellationen, vom Soloformat über Duos und Trios bis hin zu seinem Chicago Tentet und noch größeren Formationen mit unzähligen Spielpartnern und jagte den Intensitäten hinterher, die schon in seinen frühen Veröffentlichungen angelegt waren. Natürlich wurden mit den Jahren neue Tönungen seiner Projektfelder deutlich, mal radikalisierte er die freie Improvisation, mal wurde sie gesteuert, oder das Spiel mit Anklängen an vertraute Melodien oder mit Ansätzen zu Grooves erzeugte eine neue Art von kinetischer Dringlichkeit. Und gelegentlich wehte auch ein Hauch von melancholischer Beschaulichkeit durch die Musik seiner letzten Jahre, doch eines ist sie nie geworden: lau, unentschlossen und eng.
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