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Wolfgang Pehnt – Die Regel und die Ausnahme – Bewusstsein für Architekturgeschichte

04.09.2011Büchermarkt: Das Buch der WocheDeutschlandfunkBeatrix Novy, Hajo Steinert —   –  Details

Wolfgang Pehnt

Büchermarkt
04.09.2011
Aus dem literarischen Leben –
Das Buch der Woche
Wolfgang Pehnt:
»Die Regel und die Ausnahme»
(Hatje Cantz Verlag)

Bewusstsein für Architekturgeschichte
Buch der Woche: «Die Regel und die Ausnahme» von Wolfgang Pehnt
Von Beatrix Novy
Der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt hat sich über Jahre mit dem Grundsätzlichen der Architektur in seinen Essays beschäftigt. Sein neues Buch «Die Regel und die Ausnahme» nimmt sie auf und führt den Leser bis zur zeitgenössischen Architekturdiskussion. Dabei stellt er allzu homogene Epochenvorstellungen richtig.
»Öffentliche Diskussionen haben ihre eigene, unvorhersehbare Dynamik. Etwas wird zum Thema, beansprucht das allgemeine Interesse, dann wird die allgemeine Aufmerksamkeit es müde, über dasselbe Thema weiter nachzudenken, es gibt so viele andere konkurrierende Themen, die auf Erörterung warten. Es wird abgehakt und abgelegt, ohne dass sich etwas Entscheidendes geändert hätte.»»

Auch wenn Wolfgang Pehnt diese Worte auf die Tragik verfallender Kirchenbauten gemünzt hat: Sie passen auch zu seinem neuen Buch, das mit der Krankheit der schnellen Auf- und Abregungen so gar nichts gemein hat. Hier findet sich, gedruckt und in Sicherheit, auch einiges von den Architektur- und Städtebauthemen, die in den Medien sporadisch hochkochen. «Die Regel und die Ausnahme» versammelt Aufsätze aus Fachmagazinen, Tagespresse, Festschriften, einige sind noch aus den 90er-Jahren, aber dass 20 Jahre eben keine lange Zeit sind, das kann man hier lernen. Die Themen reichen weit: von der expressionistischen Architektur, mit der Pehnt seit eh und je sich beschäftigte, zu zeitgenössischen Architekturikonen, vom Bauhaus zur Denkmalpflege, vom Modeslogan Neue Einfachheit zur umstrittenen Rekonstruktion. Aber auch Goethes Gartenhaus kommt vor, eine kleine Geschichte der Weltausstellungen, und auch: «der Neufert». Also die «Bauentwurfslehre» von Ernst Neufert, ein Nachschlagewerk, das bis heute jedem Architekten ein Begriff zu sein hat, so komplett theorielos, dass man es einem Architekturkritiker von Rang gar nicht zumuten möchte. Und doch hat Wolfgang Pehnt auch «dem Neufert» einen Platz reserviert, mit seinen Abmessungen und Normen, Zahlenreihen und Grafiken, für Krankenzimmer, Kaninchenställe, Behördenflure, Schlafzimmer, Selbstversorgergärten, Versammlungssäle, Schießbahnen, Luftschutzräume, aus der Erwahrungswelt zentimetergenau in die Abstraktion allzeit gültiger Tabellen überführt.

»Sogar die Zeit, die Einbrecher beim Geldschrankknacken benötigen, wird geschätzt und die Konstruktion der Tresore darauf abgestellt.»

Aber auch der Neufert hat selbstverständlich sein tieferes Reservoir an historischen und ideengeschichtlichen Bedeutungen. Wie die Bedingungen seiner Entstehungszeit und der nachfolgenden Auflagen sind auch diesem Regelwerk seine Variablen, seine Ausnahmen eingeschrieben, ist es also ein Stück Kultur- und Sozialgeschichte geworden. Ställe für pommersche Gänse werden nicht mehr gebaut, auch Frauen brauchen heutzutage Platz im Büro, statt der Waschküche entsteht im Keller die Sauna. Der kleine Aufsatz ist ein stellenweise höchst witziges Beispiel dafür, wie Wolfgang Pehnt auch von den äußeren Bezirken der Architekturgeschichte her das Signifikante herausarbeitet. Wie er seinen Gegenstand um- und einkreist, die Seitenwege abschreitet, die diversen Beziehungen auslotet, ohne den Ausgangspunkt aus dem Blick zu verlieren. So wird eine Betrachtung zum Thema Tür, passenderweise an den Anfang des Buchs gestellt, nicht nur zu einer Reise durch die Geschichte von Drinnen und Draußen, Öffnung und Verschluss, Totenreich und Paradies; sie führt auch über die Postulate des Funktionalismus zur quasi türlosen, glastransparenten Moderne, zu Gebäuden, bei denen Türen zu trivialen Eingängen geworden sind, oder zu diesen schwellenlosen Ladenöffnungen von Boutiquen, die flanierenden Frauen täglich zum Shopping-Verhängnis werden. Die ganze Entwicklung führt zu einer provokanten Frage, die das Thema Tür weit übersteigt:

»Ist es demokratisch, die Menschen der Nuancen, Abweichungen und Besonderheiten zu berauben, ihnen die Unterschiede zwischen Preisgegebensein und Geborgenheit, Offenheit und Schutz zu nehmen?»

So, übers Grundsätzliche, nähert man sich der zeitgenössischen Architekturdiskussion, die Wolfgang Pehnt mit seinen Texten über die Jahre begleitet hat. Da ist die Auseinandersetzung mit der grassierenden Star- und Markenarchitektur: Sie deutet sich leise an im Kapitel «Schinkels Kuppel und Libeskinds Blitz», einer kunsthistorischen Exegese zu einem Architekturmotiv par excellence, der Kuppel. Die repräsentiert seit dem Altertum nicht nur das Ideale in der Form, sie kann auch reden: von Schutz und Überwölbung, von Weite und Himmelszelt. Dieser uralten Symbolhaltigkeit, derer sich auch noch ein seinerzeit moderner Baumeister wie Friedrich Schinkel im 19. Jahrhundert bediente, stellt Pehnt eine Figur aus unseren Tagen entgegen: den Libeskind-Blitz. Während Schinkel zum Bau des Alten Museums in Berlin ein allen verständliches Motiv verwendete, eben die Kuppel, erfand Libeskind für sein jüdisches Museum etwas nie Dagewesenes: den blitzförmigen Grundriss, der den Ruhm des Gebäudes schlagartig begründete.

»Die Architekturgeschichte konnte ihm, anders als Schinkel, keine ihrer alten Pathosformeln mehr an die Hand geben.»

Aber: Gerade im Vergleich der beiden Figuren offenbart sich ihre Unvergleichbarkeit. Die altbewährte Bauform Kuppel ist in erster Linie Architektur, der Blitz in erster Linie Bedeutung. Als Sinnbild von Zerstörung und Zerklüftung spricht er die Besucher des Jüdischen Museums direkt an. Libeskind leitete ihn aber auch von der Form eines Davidsterns ab, gewonnen aus bestimmten signifikanten Adressen auf dem Berliner Stadtplan. Andererseits hat Libeskind die vielzackige Form vorher und nachher für ganz andere Planungen verwendet. Pehnt leitet dieses «Beziehungsspiel von hoher Willkürlichkeit» ab aus dem Originalitätszwang, der ihm zugrunde liegt.

»Man wird weder Pluralismus noch Globalisierung, zwei Charakterzüge der Gegenwart, zurücknehmen können oder auch nur wollen. Aus dem einen ergibt sich das andere, eine enorme Ausweitung der Quellen und Repertoires und gleichzeitig eine Abnahme ihrer gesellschaftlichen Verbindlichkeit. Wo sich einer in dieser Pluralität bemerkbar, sichtbar machen will, muss er auf hohe Originalität setzen. Aber große Originalität – das ist das Dilemma – bedeutet auch erschwerte Mitteilung. Wer von den Stars hochindividuelle Überraschungen erwartet, kann ihnen nicht verbindliche Deutungen abverlangen. Denn Verbindlichkeit setzt Konvention voraus.»

Wo andere genervte Kommentare abgeben, weil Libeskind schon wieder irgendwo etwas Blitzförmiges gebaut hat, misst Pehnt lieber die Spanne der objektiven Bedingungen ab. Das Eifern ist nicht seine Sache, schrieb ganz richtig einmal die «Frankfurter Allgemeine». Mit einem Mangel an Position oder Meinungsfreudigkeit hat das nichts zu tun; aber die Zeiten, als Kunst- und Architekturhistoriker ein geschlossenes Bild vergangener oder ihrer eigenen Epoche entwerfen konnten, sind vorbei. Wenn Pehnt unsere Epoche vorstellt in ihrer Epochenlosigkeit, ihrem postmodernen Nebeneinander, ihrer Optionalität und Beliebigkeit, stellt er im historischen Rückblick auch immer wieder die allzu homogenen Vorstellungen richtig, die wir von vergangenen Epochen haben. Überall gab es zu einer Richtung auch die Gegenrichtung, brachte ein Zeitgeist seine Antagonisten hervor. Exemplarisch fächert Pehnt das auf am Expressionismus, der sich architektonisch in vielen sehr diversen, mitunter gegenläufigen Ausdrucksformen und gesellschaftlichen Positionen niederschlug, und seine Tentakel weit in die Zeit nach den 10er- und 20er-Jahren ausstreckte. Mit den Nachkriegsarchitekten Hans Scharoun und Gottfried Böhm verfolgt Pehnt diesen Expressionismus nach dem Expressionismus und findet das Phänomen wieder in der Gegenwart: in den unerhörten Formfindungen der Mega- und Medienstars, der Gehrys, Hadids, Calatravas. Sie können das Expressive endlich auf die Spitze treiben; die Grenzen, die früher Material und Konstruktion setzten, hat die Technik verschoben.

»Wenn heute ein Frank O. Gehry dramatisch bewegte Blechhäute über verzogene Stahlhäute wirft oder Betonfertigteile verformt, bedient er sich selbstredend des Computers. Der Computer hilft nicht nur als Zeicheninstrument, sondern als Produktionswerkzeug. Nur so können die verwegensten zeitgenössischen Architekturerfindungen realisiert werden, die Längen der Stahlrohrglieder berechnet oder die Gussformen der Betonelemente – jedes Teilstück ein anderes Format – gefräst werden.»

Aber was der Expressionismus am Anfang des 20. Jahrhunderts war: Ein Aufbruch, eine moralische Resolution gegen alles Akademische, Gekünstelte, für unmittelbaren Ausdruck und Gemeinschaft aller Künste, das kann es heute nicht mehr geben.

»Anders als der Expressionismus aus erster Hand ist der neue Expressionismus – wenn wir ihn denn überhaupt so nennen wollen – seit den späten 1950er-Jahren eine von vielen zeitgenössischen Spielarten, die heute Dekonstruktivismus, Zweite Moderne (oder ist es schon die dritte?), Neue Einfachheit oder Minimalismus heißen. Der Expressionismus aus zweiter Hand existiert schon sehr viel länger als sein Vorgänger. Er ist mit keinen weiteren sozialen oder religiösen Glaubensbekenntnissen verbunden. Er verpflichtet zu nichts und protestiert auch gegen nichts. Er will Gebäude als Designobjekte herstellen, die vor allem Sensation machen, zugunsten seiner Auftraggeber und notabene seiner Architekten. Die neuen Expressionisten mögen biografische Gründe oder eine künstlerische Überzeugung haben, so zu entwerfen, wie sie entwerfen. Aber ihr Vorschlag ist eine Offerte, die mit zahlreichen anderen konkurriert. Man kann sie wählen – oder auch eine andere.»

Und nicht anders ergeht es der klassischen Architekturmoderne, die sich doch als das Ende der Stilgeschichtebegriff. Ihre Vielfalt musste in den letzten Jahrzehnten erst nach und nach wiederentdeckt, freigelegt werden. Im Gegensatz zu einer weltweit verbreiteten Meinung war in den 20er-Jahren nicht alles Bauhaus, selbst unter den Lehranstalten in Deutschland gab es etliche, die in Sachen moderner Gesinnung dem Bauhaus das Wasser reichen konnten. Aber eine moderne Eigenschaft hatten die Weimarer und Dessauer den anderen voraus: ein erstklassiges Marketing. Im Kapitel über «Das Bauhaus und die Organisation seines Nachruhms» zeichnet Pehnt diesen Weg zum Meinungsmonopol nach. Doch auch das lange und weltweite Nachleben der Marke Bauhaus kann ihr postmodernes Schicksal nicht verhindern.

/»So sind Bauhausvillen, neu gebaute selbstverständlich, derzeit wieder vermehrt auf dem Immobilienmarkt vertreten, und bei manchen neuen Großobjekten im Stadtbild könnte ein Avantgardist der 1920er-Jahre Wiedersehensfeste feiern. Freilich müsste er auch bereit sein, an der nächsten Straßenecke das ganz und gar Andersartige zu tolerieren, eine Rekonstruktion aus der Plankammer der Retrokultur, den postmodernen Schnee von gestern, eine abermalige Volte des Dekonstruktivismus, ein Erzeugnis des Ökodesigns oder weiteres Experiment des Hightech. Die sektionale Dauerhaftigkeit des Bauhausstils ist mit dem Pluralismus konkurrierender Angebote bezahlt. Er existiert noch immer, aber muss viele andere neben sich dulden.»

Wirklich scharfe Töne schlägt Pehnt an beim umkämpften Thema Rekonstruktion. Der bündige Ausdruck für das, was früher verschämt, inzwischen immer offener geäußert wird: Wir wollen unser Stadtschloss, unsere Kirche, unsere ganze Altstadt wiederhaben.

»Wenn die Frankfurter Altstadtfreunde ihre Kampagnen führen, so wollen sie die Altstadt, wie sie gewesen ist, in alter Fachwerkseligkeit, aber möglichst nach Passivhausstandard gedämmt. Wenn sie Dresdner ihren Neumarkt wiederhaben wollen, so mit barocken Putzspiegeln und Gauben, wenn auch mit ein paar Tausend Quadratmetern Nutzfläche zusätzlich.»

Pehnt weiß wohl, dass der Wunsch nach der Schönheit und Heimatlichkeit alter Städte eine Reaktion ist auf die Zumutungen der Moderne. Und hat nicht das 20. Jahrhundert den Menschen zu viel Veränderungen in kurzer Zeit zugemutet; ist nicht der Wunsch, es mal für eine Weile gut sein zu lassen, mehr als verständlich? Gerade in Deutschland sind zwei Zerstörungswellen übers Land gegangen: erst der Krieg, dann die Renovierungs- und Abrisswut der 60er- und 70er-Jahre. Hier ist mehr passiert als in anderen, ebenso modernen Ländern, wo alte Städte bis heute unbehelligt stehenbleiben, deshalb fahren die Deutschen ja so gern hin. Aber auch, wenn Wolfgang Pehnt fragt:

»Könnte es sein, dass ein größeres Maß an Normalität gewünscht wird, weil das Leben Selbstverständlichkeit und nicht einen Ausnahmezustand nach dem anderen benötigt?»

Beharrt er doch auf den Tatsachen: Der Wiederaufbau alter Schlösser und Fachwerkhäuser bringt nichts zurück.

»Die Vielgestaltigkeit und Kleinteiligkeit der alten Stadt, ihr pittoresker Reiz, aber gelegentlich auch der Ausbruch in die autoritative Gebärde der Machtinstanzen, der Stadt- und der Landesöffentlichkeit, der Kirchen, Schlösser, Rathäuser, Tuchhallen, Speichergebäude, Torhäuser – das können die zeitgenössische Architektur und der zeitgenössische Städtebau schon deshalb nicht bieten, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse in ganz andere und abstraktere Größenordnungen hineingewachsen sind.»

Rekonstruktion erscheint umso aberwitziger, je mehr echte Zeugen der Vergangenheit überall verfallen oder gar abgerissen werden. Ohne den Begriff der Aura zu verwenden, klagt Pehnt ihren Verlust an: Auf der Strecke bleibt das Bewusstsein, dass ein Gebäude älter ist, vielleicht viele Jahrhunderte als man selbst. Das Bewusstsein für Geschichtlichkeit also. Im Kapitel über Berlin, den Abriss des Palasts der Republik und den geplanten Wiederaufbau des Stadtschlosses fordert Pehnt sarkastisch den Wiederaufbau noch ganz vieler verlorener Alt-Berliner Gebäude, denn: warum nicht?

»Herbeizitiert wird, was gefällt. So geht eine Generation, die es gewöhnt ist, ihre Informationen und ihre Unterhaltung auf digitalen Tastendruck abzurufen, mit jenem Genre um, das einmal als die materielle dauerhafteste und geistig traditionsfähigste der Künste galt, der Architektur. Ins Belieben der Gegenwart wird gestellt zu entscheiden, von welchem Zeugnis ihrer Vergangenheit sie sich endgültig verabschiedet und welches sie sich aufs Neue besorgen will. Darüber verkommen angesichts der schwindenden Mittel der Denkmalpflege vorhandene, gefährdete, eben noch zu rettende Geschichtsdokumente. Ihnen wäre mit einem Bruchteil jener Mittel zu helfen, die spektakuläre Reinkarnationen erfordern.»

Man könnte dagegen einwenden, dass andere Kulturen – und die Kulturen der Welt wachsen gerade zusammen – andere Maßstäbe fürs Authentische hervorgebracht haben: Ostasien zum Beispiel eine große Wertschätzung der perfekten Wiederholung des immer gleichen ehrwürdigen Alten in Kunst und Baukunst. Andererseits ist der Umgang mit Vergangenheit für uns nun mal direkt mit ihren baulichen Zeugnissen verbunden. Es ist das Glätten der Geschichte, das Ungeschehen-machen-wollen, das Pehnt nicht akzeptiert, auch nicht bei gewissen Neubauten. Wer sich schon immer allein fühlte, weil ihn Peter Zumthors hochgelobtes Kolumba-Museum in Köln nicht so überzeugte wie den Rest der Welt, wird sich über das Kapitel «Ein Ende der Wundpflege» freuen, in dem es um die richtige Art der Reparatur zerstörter oder verfallener Bauten geht. Wo Architekten sonst, seit sie Altes und Neues zusammenbringen müssen, die Fugen mehr oder weniger sichtbar machen, das Alte vom Neuen absetzen, überbaute Zumthor die kleine Nachkriegs-Kapelle von Gottfried Böhm, die jahrzehntelang die Kölner an den Krieg erinnert hatte. Und gab dem Museum eine Fassade, die in ihrer hermetischen Eleganz an nichts erinnert.

»Die Wunde soll zuheilen, endlich. Keine Risse mehr, keine Fehlstellen. Allem Fragmentarischen, das den Bauplatz und seine Umgebung bestimmte, hält er ein harmonisierendes Bild entgegen, fast triumphal. Kein Chaos mehr, keine Brüche, nichts Heterogenes, keine nach außen getragenen Konflikte. Der Krieg ging vor mehr als sechzig Jahren zu Ende, vergessen wir ihn.»//

Wolfgang Pehnts Buch ist mehr als eine Aufsatzsammlung. Aus den aktuellen und den allgemeinen Architekturfragen heraus rundet sich ein Bild. Wer von Architektur mehr wissen will, jedenfalls soviel, dass einem vor einem Sensationsbauwerk mehr einfällt als nur Ah! und Oh! ausrufen zu können, findet in diesem Buch das Rüstzeug dafür. Dass man als Preis dafür ab und zu mal ein Wort im kunsthistorischen Lexikon nachschlagen muss, ist nicht zu viel für eine sichere Grundlage, auf der eine oft affirmative Architekturkritik kritisch gelesen werden kann.

Wolfgang Pehnt: Die Regel und die Ausnahme – Essays zu Bauen, Planen und Ähnlichem
Verlag Hatje Cantz, 320 Seiten, 35 Euro

Die Themen des Buches reichen vom Bauhaus bis zur Denkmalpflege, von der expressionistischen bis zur zeitgenössischen Architektur. (Bild: AP)

 
 

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Was vor den Geburtswehen lag – Jack Kerouac: On the road. Die Urfassung

14.11.2010BüchermarktDeutschlandfunkDenis Scheck, Michael Schmitt —   –  Details

Jack Kerouac

Was vor den Geburtswehen lag
Jack Kerouac: «On the road. Die Urfassung», Rowohlt Verlag
Von Michael Schmitt

Das Buch «On The Road» von Jack Kerouac erschien 1957. Es wurde zum Erfolg und Meilenstein, ist aber kürzer als die Manuskriptfassung – bereinigt um skandalträchtige Szenen und mit erfundenen Namen für die realen Helden. Nun liegt die Urfassung des Werks vor.

Alles was ich wollte und was Neal wollte und was alle wollten, war, irgendwie ins Herz der Dinge vorzudringen, wo wir uns wie im Mutterschoß einkringeln und dem ekstatischen Schlaf hingeben konnten, den Burroughs mit einer schönen großen Spritze M. erlebte und die Werbemanager in New York mit zwölf Scotch & Sodas – nur ohne Kater. Ich hatte damals haufenweise romantische Phantasien und beseufzte mein Ungemach. In Wirklichkeit stirbt man einfach, man stirbt die ganze Zeit, und doch lebt man, man lebt weiter.

Es ist dieser in Literatur umgesetzter Impuls, der Jack Kerouacs Roman «On the Road» nach seinem Erscheinen 1957 zum Erfolg und zum Meilenstein hat werden lassen. Und in den Jahren davor war das Kraftquelle, die den jungen Schriftsteller quer durchs Land getrieben hatte, ihn in immer neuen Anläufen zu diesem Buch hatte ansetzen lassen, um dann – oh schöne Legende – eine 40 Meter lange Fernschreiberpapierrolle in drei Wochen voll zu schreiben – ohne Absatz und mehr oder weniger auch ohne Punkt und Komma. Es solle in diesem Buch um zwei Männer auf dem Weg nach Kalifornien gehen, die etwas suchen, was sie nicht finden werden, hatte Kerouac schon 1948 dazu notiert, und die dann zurückfahren, in der Hoffnung, etwas anderes zu finden.

Der Impuls war also von Beginn an zwiespältig; dem Pathos des Aufbruchs entsprach ein nicht weniger emphatischer Fatalismus, eine erwartbare Enttäuschung, die aus einer jubelnden Hymne auf die Suche nach den in sich etwas widersprüchlichen Zielen «Freiheit und Ruhe» schließlich eine Literatur werden ließ, die Jahrzehnte überdauern konnte, nachdem die Freundschaften, die von der Straße gelebt hatten, auseinander gegangen waren und die Wege sich getrennt hatten. Das weiß der Roman in der veröffentlichten Fassung von 1957; so steht es aber auch schon in der nun sogenannten «Urfassung», jener Manuskriptversion, die Jack Kerouac im April 1951 in einem Zug in die Schreibmaschine hämmerte. Das Scheitern gehört von Anfang als Thema zu diesem Projekt dazu, der Roman erzählt nicht nur vom Aufblühen und von den Höhepunkten einer eigenwilligen Freundschaft unter jungen Männern; er kennt auch deren Ende, als einer der beiden zum ernsthaft experimentierenden Schriftstellern geworden ist, während der andere nur mehr als stammelnder «heiliger Narr», als literarische Figur im Gedächtnis bleibt.

Ein paar kleine Korrekturen haben dieser mythischen Erzählung nie geschadet – warum auch? Die Papierrolle, die Kerouac benutzte, war zusammengeklebt und kein Endlospapierstreifen für spontane, atemlose Dichtkunst, und auch die Zeichensetzung Jack Kerouacs war weitgehend konventionell. Aber der Ruhm des Romans beruht ja nicht auf solchen Petitessen, sondern auf der Wucht, mit der er das Prinzip «Bewegung» gegen die Ängstlichkeiten des amerikanischen Mittelklasse-Alltags kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausspielt.

Es nieselte, und unsere Reise begann geheimnisvoll. Ich sah, dass sie eine große Saga des Nebels werden würde. «Hui», jubelte Neal, «los geht›s!» Und er beugte sich über das Lenkrad und trat das Gaspedal durch; er war wieder in seinem Element, das war nicht übersehen. Wir alle waren begeistert, wir alle merkten, dass wir Verwirrung und Unsinn hinter uns ließen und unsere damals einzige und noble Funktion erfüllten: Bewegung. Und wie wir uns bewegten! Wir flogen an geheimnisvollen weißen Schildern irgendwo in der Nacht von New Jersey vorbei (…) Es loderte in unseren Köpfen (…) Die weiße Mittellinie des Highways zog unter uns hinweg und schmiegte sich an den linken Vorderreifen, als klebte sie an unserem Groove. Neal krümmte den muskulösen Hals, im T-Shirt in der Winternacht, und brauste dahin.

Wer denkt da nicht an James Dean in der Mitte der Fünfziger Jahre, also an «Rebel without a cause» oder an Richard Dreyfuß in «American Graffiti», einer Geschichte, die allerdings erst Anfang der Sechziger spielt. Jack Kerouac, Neal Cassady und ihre Freunde, ihre Ehefrauen und Geliebten sind aber schon deutlich früher unterwegs – und zwar in einer Welt, die noch nicht einmal in Ansätzen so etwas wie Jugendkultur oder Gegenkultur formulieren kann. Es gibt zwar den Jazz von John Coltrane oder die Kunst von Jackson Pollock – aber das alles ist Pionierarbeit und keineswegs weitverbreitet oder gar als selbstverständlich akzeptiert.

Die Reisen in Autobussen oder in eigenen, manchmal auch gestohlenen Autos fallen in die Jahre 1947 bis 1950. Sie führen von New York über Denver nach Kalifornien und wieder zurück; sie führen nach Texas und schließlich auch nach Mexiko. Jack Kerouac, 1923 geboren, ist Mitte, Ende Zwanzig, sein Freund Neal Cassady ist ein paar Jahre jünger. Kerouac, als Frankokanadier geboren und Halbwaise, hat 1942/43 versucht, bei der US-Kriegsmarine zu dienen, ist aber als schizoid abgelehnt worden; er hat ein abgebrochenes Studium hinter sich, er gehört mit Allen Ginsberg, Lucien Carr und William Burroughs zu einer aufmüpfigen, aber noch ganz und gar unbekannten Dichtergeneration.

Er arbeitet Ende der Vierziger an einem Roman, «The Town and the City», der 1950 erscheinen wird, und schon ein paar Motive von «On the road» ausprobiert. Als Veteran bezieht er zudem wie viele junge Männer in diesen Jahren ein paar Dollar Rente und wird ansonsten von seiner Mutter finanziell unterstützt. Neal Cassady dagegen ist in Salt Lake City «auf der Straße» geboren worden, hat seine Jugendjahre in Erziehungsheimen verbracht und ist ein notorischer Autodieb und Autofan. Ein manischer Charakter, eloquent und zügellos, der Frauen genauso um den Finger wickeln wie junge Dichter beeindrucken kann. Neal Cassady, das ist ein Knacki, der gerne ein Intellektueller werden und alles über Nietzsche wissen möchte, heißt es; und man weiß, dass seine Briefe 1951 den Ton mitgeprägt haben, in dem Kerouac seinem geplanten Roman tatsächlich eine erste feste Gestalt geben kann.

Diese Hintergründe und die Entstehungsgeschichte des Romans waren immer schon bekannt – bis vor drei Jahren aber mussten die Leser sich sowohl im amerikanischen wie auch im deutschen Sprachraum mit jener Fassung begnügen, die 1957 nach vielen Geburtswehen tatsächlich hatte erscheinen können: kürzer als die verschiedenen abgeschlossenen Manuskriptfassungen, bereinigt um skandalträchtige Szenen und mit erfundenen Namen für die realen Helden der realen Reisen: Neal Cassady hieß darin Dean Moriarty, und auch Allen Ginsberg oder William Burroughs mussten sozusagen unter Pseudonym auftreten.

Die Fassung des Romans auf der berühmten Schriftrolle war also lange nur eine Reliquie, Teil des gewaltigen Kerouac-Kultes – und sie hat in dieser Form wohl auch nie ein Lektoratsbüro von innen gesehen. 2007 legte Howard Cunnell dann jedoch eine Edition dieser Fassung vor, die nun auch in einer süffigen deutschen Übersetzung von Ulrich Blumenbach erhältlich ist. Rekonstruiert auf der Basis der Papierrolle und jener Korrekturen, die Kerouac selbst darauf vorgenommen hat; abgesichert durch den Blick auf andere Manuskriptfassungen, die vor oder direkt im Anschluss entstanden sind. Vorangestellt ist dieser Urfassung ein Zitat von Walt Whitman, das in der Fassung von 1957 nicht mehr vorkommt:

Camerado, ich reiche Dir meine Hand!
Ich reiche die meine Liebe, kostbarer als Geld,
Ich reiche dir mich selber, noch vor Predigt oder Gesetz;
Willst du dich mir reichen? Willst Du mit mir wandern?
Sollen wir zusammenbleiben, solange wir leben?

Knapper kann man nicht fassen, was Kerouac und seine Freunde umtreibt, als sie sich auf den Weg machen, um Bewegung zu ihrer wesentlichen und vornehmsten Aufgabe zu wählen.

Die Busfahrt von Denver nach Frisco verlief ereignislos, nur das mir das Herz zunehmend im Leibe sprang, je mehr wir uns Frisco näherten. Wieder Cheyenne … diesmal am Nachmittag … und dann nach Westen über das offene Weideland; um Mitternacht überquerten wir die Wasserscheide bei Creston, erreichten in der Morgendämmerung Salt Lake City, eine Stadt der Rasensprenger – kaum zu glauben, dass Neal dort zur Welt gekommen sein sollte; dann hinaus nach Nevada in die heiße Sonne, bei Einbruch der Nacht Reno mit seinen blinkenden Chinesenstrassen; dan in die Sierra Nevada hinauf, Kiefern, Sterne, Berghütten, die für Frisco-Romanzen standen (…) und dann den Hügel hinab in die Ebene von Sacramento. Plötzlich wurde mir klar, dass ich in Kalifornien war. Warme Palmenluft – eine Luft zum Küssen – und Palmen.

Ein Logbuch der Hip-Generation hat Kerouac in frühen Entwürfen in seinem Roman sehen wollen. Erste Anläufe unternahm er schon im August 1948; kaum hatte er die nun vorliegende «Urfassung» abgeschlossen, schrieb er den Text um und produzierte zwei unterschiedlich lange neue Versionen, die er dann wohl tatsächlich bei Verlagen einreichte, bei Roger Giroux und bei Viking. Diese «Urfassung» ist also vermutlich nicht mehr als eine Durchgangsstation, ein viel wilderer Text als die später publizierte Version, mit mehr Sex, mit weniger Schliff – und geschrieben ohne Angst vor Verleumdungsklagen von namentlich genannten Protagonisten. Sie entwerte die bekannte Version von 1957 daher auch nicht, sondern trete mit ihr in einen Dialog, beteuert daher auch der Herausgeber. Ganz bestimmt ist sie näher dran an den Empfindungen jener sehr jungen Männer, die Ende der Vierziger zwar schon wissen, dass sie anders leben wollen, als man es ihnen beigebracht hat; die aber noch nicht wissen können, dass zumindest einige von ihnen ein Jahrzehnt später dadurch tatsächlich berühmt sein werden.

Neal wickelte die Angelegenheiten mit seinen Mädchen ab, und fröhlich kichernd machten sich die beiden Jungs auf den weg nach Texas. In Denver sah jemand sie den South Broadway hinabgehen; Neal rannte und haschte nach hochhängenden Blättern, Allen, so der Gewährsmann, «machte sich dazu Notizen». (…) Sie reisten tage- und nächtelang nach Texas; in der ganzen Zeit schliefen sie nicht und redeten ununterbrochen. Nichts blieb unentschieden und undiskutiert. Auf dem Highway, zwischen den Felsen am Raton Pass, im windzerzausten Panhandle-Gras bei Amarillo, im buschigen Herzen von Texas redeten und redeten sie, und bei iherr Ankunft in Waverly, Texas, unten in der Nähe von Houston, wo Bill Burroughs lebte, war so viel entschieden worden, dass sie sich auf der dunklen Strasse hinknieten, einander ansahen und sich ewige Liebe & Freundschaft schworen. Allen segnete ihn; Neal ließ es zu. Sie knieten und psalmodierten, bis ihnen die Knie weh taten.

Atemlosigkeit ist das eine, was den Leser aus solchen Passagen anspringt, eine Art von literarischer Wiedergeburt der Empfindsamkeit aus dem Geiste einer neuzeitlichen Unrast ist das andere. Er habe seine Sätze so eingeteilt, als würden die Gedanken nach Luft schnappen, hat Kerouac dazu erklärt, und das Ergebnis klingt über weite Passagen wie ein andauernder hymnischer Gesang von Lebensgier und ständiger Bewegung. In einem frühen Stadium der Konzeption hatte Kerouac noch beabsichtigt, eine Reihe von Romanen zu schreiben, in denen jene Amerikaner zu Wort kommen sollten, denen er und Neal auf der Straße begegnet waren, aber schon die Urfassung von «On the Road» kennt nur mehr die eine und einzige Stimme des dauer-euphorischen Erzählers.

Was ihm auf seinem Weg begegnet, ist stets nur Anlass und Spiegel für seine höchsteigenen Empfindungen. Für spirituelle Erfahrungen, für religiöse Unter- und Obertöne, wenn die Sprache Kerouacs katholische Herkunft nicht verleugnet. Das kann beim Lesen durchaus enervieren, und schon der Kritiker und Lektor Malcolm Cowley, der Kerouac schließlich zu einem Verlag verhalf, attestierte dem überarbeiteten Manuskript etwas herablassend, dass es zwar ein aussagekräftiges Dokument, aber deshalb noch kein bedeutender Roman sei. Und Truman Capote hat «On the Road» seinerzeit sogar als Geschreibsel abgetan.

Besser kann man den Traditionsbruch, den Kerouacs spontane Schreibweise darstellt, vielleicht gar nicht definieren. Es ging Kerouac nicht um Weltanschauung und um Stil im tradierten Sinne, es ging ihm um die Darstellung von Unmittelbarkeit. Und den Rhythmus dazu lieferte der zeitgenössische Jazz, nach dessen Takt man sich an düsteren Orten die Nächte um die Ohren schlug.

Ein Aufruhr an Musik, und der Saxophonist hatte es, und alle wussten, dass er es hatte. Neal hielt sich in der Menge den Kopf, und es war wirklich eine ausgeflippte menge. Alle drängten den Saxophonisten schreiend und wildäugig weiterzumachen, und er kam aus der Hocke, ging hoch und wieder in die Knie, wand dann sein Saxophon mit einem klaren Ruf über das Getobe hinauf. Eine eins achtzig große, hagere Schwarze schüttelte ihre Knochen vor dem Trichter, und er stieß damit nach ihr, -»ii! ii! ii!» Er hatte einen Ton wie ein Nebelhorn; sein Saxophon war umklebt; er war Werftarbeiter, aber das war ihm egal. Alle wippten und brüllten mit. Helen und Julie hatten ihre Biere in den Händen, standen auf ihren Stühlen, schüttelten sich und hüpften. Von der Strasse stolperten und rempelten scharenweise Schwarze herein. «Weiter, mann!», röhrte ein Mann mit Nebelhornstimme und stöhnte so laut, dass es bis Sacramento zu hören gewesen sein muss, ah-haa! «Puh!», machte Neal, er rieb sich die Brust und den Bauch, und der Schweiß spritzte ihm vom Gesicht. Bumm, kick, der Drummer trat seine Drums in den Keller und rollte mit seinen mörderischen Sticks den Beat die Treppe hoch, klapperdibumm! Ein großer Dickwanst sprang auf der Bühne herum, die sich knarrend durchbog.

Und so wie sie die Musik erleben, so hetzen diese jungen Männer auch mit dem Auto über Land, vor allem Neal Cassady reizt Geschwindigkeit und Thrill bis zum Letzten aus, fährt ein Auto nach dem anderen zu Schrott. Sie brausen – immer irgendwie mit 180 Sachen – durch ein Amerika, das vier, fünf Jahre nach dem Kriegsende erst vor kurzem jenen wirtschaftlichen Aufschwung genommen hat, den Roosevelt mit dem New Deal hatte erreichen wollen. Sie toben durch ein Kalifornien, wo ungefähr gleichzeitig die gerade mal 16-, 17-jährige Susan Sontag als Studentin angekommen ist und ihre ersten lesbischen Freundschaften leben kann. Aber auch durch ein Land, in dem viele Kriegsveteranen nicht mehr in das bürgerliche Leben zurück finden und auf alten Militär-Harleys die ersten Motorrad-Gangs gründen.

Alle zusammen sind sie die andere Seite des Aufschwungs in den USA nach dem Ende der Kriegswirtschaft. Aber über solche Zusammenhänge erzählt Kerouac eigentlich gar nichts; kaum einmal weitet er den Blick über die Clubs, die Landstraßen und die schäbigen Wohnungen seiner Freunde und Bekannten hinaus. Eine der wenigen Ausnahmen, und das auch nur in wenigen Worten, ist ein Viertel in San Francisco, genannt Marin City:

Marin City, San Fran
Marin City (…) war ein Barackenviertel in einem Tal, eine im Krieg für Arbeiter einer Marinewerft erbaute Siedlung; eigentlich war das Ttal ein tiefer Canyon mit dichtbewaldeten Hängen. Für die Bewohner der Siedlung gab es eigene Geschäfte, Frisiersalons und Schneidereien. Es war angeblich die einzige Gemeinde in ganz Amerika, wo Weiße und Schwarze freiwillig zusammenlebten; das stimmte auch, und ein so quietschfideles Viertel habe ich nie wieder gesehen.

Man kann also allerlei Vorwissen an solche Passagen aus «On the road» herantragen, und dann spürt man, wie eine überalterte Gesellschaftsordnung auseinander zu fallen beginnt, wie sie Risse bekommt und sich neue Möglichkeiten eröffnet. Aber dafür hat Kerouac keine Sprache. Er will nicht als Intellektueller auf die Dinge schauen, er versucht einfach durchzukommen, bemüht sich um Jobs als Drehbuchschreiber und verdingt sich sogar für kurze Zeit und genauso erfolglos um eine Stelle als Polizist. Er ist ein junger Wilder auf der Suche nach Freiräumen. Und lässt sich dabei von amerikanischen Traditionen leiten, die auch schon vorangegangenen Generationen als Leitbilder gedient haben, nicht zuletzt dem schon zitierten Walt Whitman: Vom einfachen Leben unter einfachen Leuten, von den Mythen des weiten Landes.

Nur: Die einfachen Leute, denen er beispielsweise beim Baumwollpflücken auf den Feldern oder auf den Ladeflächen der LKWS beim Trampen begegnet, müssen dieses einfache Leben auf Dauer durchhalten. Und die amerikanische Literatur kennt ja auch zahllose Schilderungen ihrer Mühsal und ihrer Erniedrigungen. Für den reisenden Tramp und Dichter aber bleibt die Sache unverbindlich, man möchte fast sagen ein Spiel – man muss es dem Dichter nicht vorwerfen, aber es macht einen Unterschied. So momenthaft wie die Begeisterung, so zügig kommt nämlich auch die Ernüchterung. «Ich hatte mit der Arbeit auf dem Baumwollfeld abgeschlossen. Ich spürte, wie es mich in meine altes Leben zurückzog», heißt es dann, und als nächstes schreibt er eine Postkarte an seine Mutter, bittet sie um eine Überweisung von fünfzig Dollar und reist weiter.

»On the road» ist in jeder Fassung, 1951 genauso wie 1957, vor allem eine Geschichte über die Suche nach Intensität — doch wie lange lässt sich solche eine Suche aufrechterhalten, wenn sie sich selbst genug sein muss, wenn sie kein anderes Ziel hat, als sich auszuleben? 1951 schreibt Kerouac, Neal Cassady sei das «Fieber», das ihn und seine Freunde immer wieder erfasse, vielleicht ist er auch ein exotisches, homosexuelles Abenteuer, aber ganz gewiss ist er keiner, mit dem lange über den Sinn des Lebens oder den Sinn einer Reise diskutieren kann. Der Roman kennt ihn vor allem als Projektionsfläche für Ausbruchsphantasien, als maskulinen Sexprotz, der sich nimmt, was immer er kriegen kann, und gegen Ende mehr und mehr auch als stammelnden Narren, dessen Freunde von ihm immer weniger halten. Neal Cassady ist sozusagen der Mann für gewisse Eskapaden, aber der Kumpan für den ersehnten exstatischen und erlösenden Schlaf, für die Ruhe am Ende all dieser eiligen Exzesse – das ist er nicht. Das ahnt man schon früh, und jede Episode, die dann folgt, führt einen Schritt weiter weg von den romantischen Fantasien des Aufbruchs.

Als Pauline mich mit Neal und Louanne sah, verdüsterte sich ihre Miene .. sie spürte den Wahnsinn, mit dem sie mich ansteckten. «Ich mag dich nicht, wenn du mit ihnen zusammen bist.» — «Ach, das ist schon okay, wir sind nur gut drauf. Wir leben nur einmal. Wir amüsieren uns.» – «Nein, es ist traurig, und ich mag es nicht.» Dann fing Louanne an, mit mir zu flirten; sie sagte, Neal würde sowieso bei Carolyn bleiben, und sie wollte, dass ich mit ihr ging. (…) Aber ich wusste, dass Neal Louanne liebte, und ich wusste auch, dass Louanne es nur darauf anlegte, Pauline eifersüchtig zu machen, und wollte nichts davon wissen. Trotzdem leckte ich mir die Lippen nach dem blonden Knackarsch. Louanne und Pauline waren zwei erstklassige Schönheiten. Als Pauline sah, wie Louanne mich in Ecken schob, mich anmachte und mir Küsse aufdrängte, ließ sie sich von Neal nach draußen in den Wagen locken; sie unterhielten sich aber bloß und tranken den Südstaatenfusel, den ich im Handschuhfach gelassen hatte. Alles geriet durcheinander und alles zerfiel.

Zur Geschichte von «On the road» gehört, dass der Ruhm den Verfasser und das Buch eigentlich viel zu spät und letztlich wie ein Missverständnis erreicht hat. Denn die Jahre, die zwischen dem Manuskriptstadium und der Veröffentlichung liegen, bedeuteten einen ganz und gar veränderten Kontext für die Lektüre. Was als Roman über die Outcasts der Vierziger geschrieben worden war, wurde als Buch zur Jugendrebellion der Fünfziger gelesen. Ein bisschen ging es Jack Kerouac damit wohl so wie ein paar Jahre später Hermann Hesse mit seinem Roman «Steppenwolf», der auch nicht für jene Hippies geschrieben worden war, von denen er dann glorifiziert wurde.

Zwar sorgte auch Allen Ginsberg erst 1956 mit seinem Gedicht «Howl» für wirkliches Aufsehen; und William Burroughs› «Naked Lunch» erschien sogar erst 1959. Dennoch konnte und wollte Jack Kerouac mit seinem Ruhm nur wenig anfangen. Während der Vorbereitungen für die Veröffentlichung, also in der jahrelangen Phase der Verhandlungen mit Lektoren, während des Umschreibens und Einkürzens hatte die Zeitschrift «Paris Review» zwar ein Kapitel abgedruckt; und weitere Passagen waren in einer Anthologie der «Best American Short Stories 1956» erschienen, aber keines der Bücher, an denen er sonst noch in diesen Jahren schrieb, konnte vor der Veröffentlichung von «On the road» erscheinen. Aber als er dann berühmt geworden war, empfand er das Interesse an seinem Buch nur als formelhaft und wenig ernsthaft; also floh er vor seinem eigenen Erfolg.

Er floh zum Alkohol und in unscheinbare Orte auf Long Island; er lebte mit seiner Mutter an wechselnden Wohnsitzen; er wurde zum Propheten der Gegenkultur erhoben und nicht nur von Bob Dylan als literarisches Vorbild erwählt – aber er füllte die Rolle nicht aus, und er erreichte auch mit keinem seiner weiteren Bücher jemals wieder eine vergleichbare Resonanz. Unter seinen Nachbarn wusste man wohl, dass er ein Schriftsteller war, aber er selbst sprach nicht darüber. Man sah ihn angeblich in schäbiger Kleidung und barfuss über die Straßen schlurfen, man sah ihn viel zu oft betrunken. Es scheint, dass er nur ein einfacher Mensch unter anderen einfachen Menschen sein wollte – aber wie sollte das gehen?

In «On the road» hatte er die Antwort auf dieses Dilemma schon lange zuvor gegeben – in der jetzt erhältlichen «Urfassung» des Romans kann man sie ebenfalls nachlesen. Ein bisschen wüster, ein bisschen ungebärdiger, aber im Prinzip nicht viel anders. Diese «Urfassung» gibt also einer mythischen Geschichte ab sofort eine für jedermann greifbare und lesbare Gestalt, abgesichert und abgerundet durch eine Überfülle an Nachworten. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.

Jack Kerouac: On the road. Die Urfassung. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach, mit mehreren Nachworten, Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, 576 Seiten, 24,95 Euro

 
 

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Der Schriftsteller Wolf Wondratschek im Gespräch

02.09.2010Das GesprächSWR2Norbert Schreiber

Wolf Wondratschek

Das Gespräch
Wolf Wondratschek im Gespräch mit Norbert Schreiber
Der Schriftsteller
Donnerstag, 02. September 2010

Marcel Reich-Ranicki hat Wolf Wondratschek einen «Klassiker der jungen Generation» genannt. Seine literarische Karriere startete Wondratschek als Verfasser von Gedichten, die in der Öffentlichkeit als Opposition zu konventionellen Texten verstanden wurden. Seine Liedtexte machten ihn in Deutschland schnell als «Rock-Poet» bekannt. In den vergangenen Jahren beschäftigt ihn mehr die Prosa. Wondratschek schreibt daneben auch Hörspiele und Filmdrehbücher. Der Autor studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main. Danach war er Redakteur der Literaturzeitschrift «Text und Kritik». Zur Zeit lebt Wondratschek als freier Schriftsteller in Wien. Produktion: Hessischer Rundfunk Redaktion: Peter Kemper (hr2-kultur) Die Produktion steht am Tag nach der Ausstrahlung für vier Wochen zum kostenfreien Download bereit.

 
 

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