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Aus den Archiven ist ein Sendungsformat von Deutschlandradio Kultur

Voller Schrecken und Wunder / Michael Degen zum 90. Geburtstag

31.01.2022NewsSüddeutsche ZeitungChristine Dössel —   –  Details

Michael Degen

Er spielte Hamlet, Hitler, Holocaust-Überlebende – und den Chef von Commissario Brunetti: Der Schauspieler, Schriftsteller und jüdische Aufklärer Michael Degen wird 90. — Michael Degen blickt auf ein sehr langes, sehr reiches Schauspielerleben zurück, seit siebzig Jahren übt er diesen Beruf aus – was kommt da nicht alles zusammen! Sein Rollenverzeichnis umfasst Auftritte in Rosamunde-Pilcher-Schmonzetten ebenso wie Protagonisten des klassischen Repertoires, allein den Hamlet hat er dreihundertmal gespielt. Fest eingeschrieben in die Köpfe der Zuschauer und bei Fans auch in die Herzen hat er sich jedoch vor allem als geckenhaft-eitler Vice-Questore Giuseppe Patta, Vorgesetzter von Commissario Brunetti in der 2019 abgeschlossenen «Donna Leon»-Reihe der ARD. Die teutonische Italianità, die das deutsche Fernsehen in diesen oft schlaffen Venedig-Krimis nach den Büchern von Donna Leon zelebrierte, war für die einen schwer aushaltbar, für die anderen jedoch, immerhin ein Millionenpublikum, ein kuschelig-kriminaltouristisches Ereignis. — Zum Rollenprofil des bei Degen stets wie aus dem Ei gepellten Vice-Questores gehört, dass er zwar das Sagen hat, aber keiner ihn so richtig ernst nehmen kann, weil er ein aufgeblasener Fatzke und als Polizist einigermaßen dämlich ist, anfällig für Luxus, Korruption und Schmeichelei. Die Komik, die darin steckt, hat Degen jedes Mal bis an die Grenze zur Trotteligkeit ausgereizt. Er spielte die Rolle nicht nur, wie es immer heißt, «mit einem Augenzwinkern», sondern sehr oft gleich ganz als Knallcharge, mit überdeutlicher Gockel-Gestik, vielleicht auch, um sich die Figur vom Leib zu halten, seine innere Distanz zu signalisieren. Denn eigentlich war dieser Patta gar nicht sein Fall. «Ich vermisse ihn nicht, ich weiß gar nicht, ob ich ihn besonders mag», sagte er jüngst. — Gentleman und Charakterkopf: Michael Degen, geboren am 31. Januar 1932 in Chemnitz (hier auf einem Foto von 2007).

 
 

SK-try202*news

Carla Bley/Steve Swallow – Duets (1988)

30.01.2022MilestonesÖ1Gerhard Graml

Carla Bley/Steve Swallow

Ihr frühes Meisterwerk «Escalator Over The Hill» nimmt die amerikanische Komponistin Carla Bley 1971 noch in großer Besetzung mit Big Band auf, ab dann beginnen ihre Ensembles zu schrumpfen, bis sie Ende der 80er Jahre schlussendlich beim Duoformat Piano/Bass ankommt. — Ihr Partner, sowohl im Studio als auch im Leben: Steve Swallow. «Duets», der erste Longplayer der beiden aus dem Jahr 1988, steht im Zentrum dieser Sendung mit Gerhard Graml.

 

— Bley und Swallow können zum Zeitpunkt der Aufnahme der «Duets» bereits auf eine 20-jährige, gemeinsame musikalische Vergangenheit zurückblicken, ist doch Swallow seit den 1960ern auf etlichen Alben mit Bleys Musik zu hören. Mit Klavier und E-Bass interpretieren die beiden erprobte Werke und abstrakte Experimente aus ihrem Repertoire, die Musik ist irgendwo zwischen Gospel, Eric Satie, Kurt Weill, Herbie Nichols und Thelonious Monk angesiedelt, und plötzlich befindet sich der Hörer als Voyeur inmitten einer präzise ausgeführten «Sinfonia Domestica» zweier Jazzavantgardisten, die also Musik über das häusliche Leben zum Besten geben.

 

— Es dominiert eine unverkennbare Stilistik, humorvoll, überraschend, meistens voll Anmut und immer hypermelodisch, sowie ein Jazzvokabular, das Carla Bley auf eigene Faust entwickelt hat, und das sich von zeitgenössischen Modernisten und freier Improvisation doch deutlich durch die kalkulierte Architektur in Melodie und Harmonie unterscheidet. Auf «Duets» stellen Carla Bley und Steve Swallow einfache Strukturen und komplexe Versuchsanordnungen einander gegenüber, und als vergnügliches Ergebnis sind leichtfüßige und zugängliche Stimmungsaufheller aus dem Wohnzimmer des Duos zu hören.

 
 

SK-try202*hehi

Es gibt nur einen Weg, den Krieg zu gewinnen

23.01.2022NewsSpiegel Onlinebab —   –  Details

Boris Bondarew

20 Jahre arbeitete er für den Kreml. Nun lebt er an einem streng geheimen Ort in der Schweiz: Der Ex-Diplomat Boris Bondarew erzählt, wie der Westen den Frieden nachhaltig sichern kann. — Nach 20 Jahren beim russischen Aussenministerium kehrte Boris Bondarew (43) dem Kreml den Rücken. Der Grund: Putins Angriffskrieg. «Noch nie habe ich mich so für mein Land geschämt», schrieb der ehemalige Uno-Gesandte in einem Wutbrief im Mai 2022. Die Kreml-Mächtigen würden den Krieg nur führen, um «auf ewig in pompösen, geschmacklosen Palästen wohnen und auf Yachten segeln zu können». Seit seinem Abgang lebt Bondarew an einem streng geheimen Ort in der Schweiz und steht unter Polizeischutz. — Jetzt äussert sich der Ex-Diplomat zum Krieg – und sagt, was der einzige Weg sei, um den russischen Präsidenten Wladimir Putin (70) in die Knie zu zwingen. «Der einzige Weg für den Westen, den Krieg zu gewinnen, ist zu entscheiden, was er als Resultat des Krieges sehen will», sagt er in einem Interview mit dem britischen Rundfunkdienst BBC. — More Information — Putin bleibt nach Niederlage «extrem gefährlich» — Was meint er damit? Im Westen bestehe die weit verbreitete Ansicht, dass das Ziel die Befreiung des ukrainischen Territoriums sei. «Das ist okay. Aber werdet ihr danach mit Putin zu tun haben? Wird dann alles wieder beim Alten sein? Oder versteht ihr, dass Putin und sein Regime die grösste Bedrohung für internationalen Frieden und Sicherheit sind – und nicht der Krieg gegen die Ukraine?»

Deshalb warnt der ehemalige Kreml-Beamte den Westen: Der Krieg gegen die Ukraine sei nur ein Symptom von Putins Machtbesessenheit. «Wenn er seine Macht behält, dann wird er eine Bedrohung sein.» Selbst nach einer Kriegsniederlage bleibe Putin extrem gefährlich und werde alles tun, «um den USA und dem Westen zu schaden». — Laut Bondarew soll sich der Westen nicht damit zufriedengeben, die Ukraine zu befreien. Er fordert den Sturz des Putin-Regimes. Gerade darum sei es auch entscheidend, aus Angst vor einer atomaren Eskalation nicht zurückzuschrecken. Solange Putin an der Macht sei, ist sich Bondarew sicher, bleibe die atomare Bedrohung bestehen. (bab)

 
 

SK-try202*

Ulrich Gumpert: Wenn wir den kommunistischen Osten nicht mit der Waffe erobern können, dann mit der Jazztrompete

15.12.2021NewsBerliner FestspieleBert Noglik —   –  Details

Ulrich Gumpert

Interview | Berliner Festspiele 2021 — Wie kaum ein anderer Musiker hat der Berliner Pianist Ulrich Gumpert die Jazz-Szene der DDR geprägt. In Projekten wie der Jazz-Rockband SOK oder dem Zentralquartett verband ihn eine jahrelange künstlerische Zusammenarbeit mit Günter «Baby» Sommer, Ernst-Ludwig Petrowsky, Conny Bauer und vielen anderen. Für unsere Reihe #Festspielgeschichten zum Jubiläum der Berliner Festspiele erzählt Ulrich Gumpert von der Situation der Jazz-Musiker*innen in Ost- und Westberlin sowie von seiner Einladung zu den Berliner Jazztagen 1979 in der Philharmonie.

Können Sie sich erinnern, wann Sie das erste Mal ein Konzert in Westberlin gespielt haben? — Das erste Mal in Westberlin spielen durften wir im November 1978, bei der FMP (Free Music Production, Berliner Plattenlabel für Free Jazz, Anm. d. Red.), im Quartier Latin. Dafür kriegten wir einen Pass ausgestellt, ein sogenanntes Dienstvisum. Nach dem Konzert mussten wir sofort wieder über die Grenze zurück und diese Pässe abgeben. Wir hatten drei Aufpasser dabei. — Drei Aufpasser für wie viele Musiker? — Acht. Die sind mit uns dann wieder rüber und haben nach dem Grenzübergang Invalidenstraße die Pässe eingesammelt. — Und die waren auch beim Konzert dabei, die ganze Zeit? — Ja. Es war das Total Music Meeting von der FMP. Auf den letzten Drücker hatten sie die ganze Band eingeladen. Nur ich, der der Band den Namen gab, durfte nicht. Das war eine komische Geschichte: Da ging die Stasi in die Häuser und fragte die Nachbarn: «Und?» Über mir wohnten zwei ältere Herrschaften, die sagten dann so ungefähr: «Och, ein ganz Netter. Aber er müsste seine Fenster mal wieder putzen.» Und damit galt ich für die Stasi als asozial (lacht). Aber so ging das los. Ein Jahr später, im Frühjahr 1979, waren wir wieder in Westberlin bei der FMP-Veranstaltung «Workshop Freie Musik». In der gleichen Besetzung, das fand in der Akademie der Künste statt. Und dann hatten wir Pfingsten einen Auftritt beim Moers Festival, auch in der gleichen Besetzung, und da die Leute dort mich nicht kannten, sollte das Ganze Ernst-Ludwig-Petrowsky-Auftritt heißen, weil er der bekannteste der Band war. Und dann kam die Einladung von den Berliner Jazztagen in die Philharmonie. Das war natürlich aufregend für uns Ostberliner. — Wenn Sie sagen, diese Einladung war etwas ganz Besonderes – wie sah die Jazz-Szene in Ostberlin aus? — Die war schon ganz rührig, in den 1970ern. Aber eben begrenzt. Da gab es den Jazzkeller in Treptow, in der Puschkin Allee. Immer freitags Jazz mit wechselnden Leuten. Und es gab «Jazz in der Kammer», in den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Anfang der 1970er gab es unmittelbar im alten Friedrichstadtpalast eine Nachtbar, die hieß «Die große Melodie». — Schöner Name. — Jeden Montag spielte eine Band oder es gab Jamsessions. So ab 1972 tauchten da Leute aus Westberlin auf, die am Wochenende bei der Free Music Production gespielt hatten – Jost Gebers war damals der Chef von der FMP. Die kamen dann montags zu uns rüber in «Die große Melodie», und dann wurde gejammt. Und die mussten dann natürlich um Mitternacht wieder durch den Tränenpalast zurück. Da gab es so eine Geschichte: Ein Posaunist aus London, Paul Rutherford, der wurde dort festgehalten, ich glaube zwei Stunden, im Tränenpalast. Der war Mitglied der englischen Kommunistischen Partei (lacht). Er hatte auch seinen Mitgliedsausweis der Kommunistischen Partei vorgezeigt, das hat die nicht interessiert. Ich glaube, er ist danach aus der Kommunistischen Partei ausgetreten, als er wieder zu Hause war. — Kurios. — Anfang November in der Philharmonie, das war schon etwas ganz Besonderes. Wir kannten die Philharmonie bis dahin nur als diesen beeindruckenden Bau, von Bildern, und dann ist man selbst drin, und dann noch mitten auf der Bühne. Wir hatten einen Soundcheck, das kannten wir aus dem Osten eigentlich auch nicht so richtig (lacht). Da hat man einfach losgelegt. Jedenfalls waren zu diesem Soundcheck eine ganze Horde Fotografen zugelassen. Ich saß dort am Flügel, die Instrumente wurden einzeln gecheckt und dann stand da diese Riesenhorde von Fotografen um mich herum und ich konnte nicht mehr, ich musste lachen, das kannte ich überhaupt nicht (lacht). — Spielten zu der Zeit die Berliner Festspiele in Ihrer Wahrnehmung auch eine Rolle? — Wir haben natürlich nur davon gehört. Es gab die Berliner Jazztage, da konnten wir leider nicht hin, bis wir 1979 eingeladen wurden. Aber die Neugierde war da. Wir fuhren seit 1970 immer nach Warschau, zur Jazz Jamboree. Da haben wir viele unserer Idole erlebt. Da gab es auch so eine schöne Geschichte: 1972 spielten wir in der «Großen Melodie» mit unserer Rock-Jazzband namens SOK. Und ich habe – ich weiß nicht mehr, wie ich das hingekriegt hatte – eine Tonbandmaschine aus dem Westen reinschmuggeln lassen und habe das Ganze mitgeschnitten. Das habe ich dann kopiert. Kurz darauf waren wir wieder in Warschau. Baby Sommer und ich, ohne dass wir voneinander wussten – wir haben uns erst 1964 kennengelernt –, hörten seit Jahren nachts um Mitternacht, von 12 bis 1 Willis Conovers «Voice of America Jazz Hour». Und da an dem Abend in Warschau stand plötzlich Willis Conover vor uns. Und Baby Sommer hat mir immer wieder gesagt: «Gib das Tonband dem Willis Conover!» — Und haben Sie es ihm gegeben? — Ich habe gesagt: «Du, USA ist noch ein bisschen weiter. Lass uns erst mal in Warschau spielen.» Also habe ich es dem künstlerischen Leiter der Jazz Jamboree gegeben. Dann haben die Polen das Band gehört und uns eingeladen. Wir kamen dann aber mit einer ganz anderen Besetzung und spielten totalen Free Jazz, aber wir haben trotzdem gewonnen: weil nämlich die Hälfte des Publikums aus der DDR dort war (lacht). 1974 wurden wir von Amiga, dem einzigen Jazz-Label in der DDR, eingeladen eine Schallplatte herzustellen. Aber nur, weil es aus Warschau rüberhallte. — Das war also der Türöffner, diese Einladung nach Warschau. Das hat den Schub gebracht. — Und wenn man darüber nachdenkt, hätte ich das Band Willis Conover gegeben, dann hätte es noch ewig gedauert (lacht). — Welche Rolle spielte amerikanischer Jazz für die Politik in der DDR? — Es gab diesen Spruch von einem US-General: «Wenn wir den kommunistischen Osten nicht mit der Waffe erobern können, dann mit der Jazztrompete». Und so war Jazz in den Anfangsjahren der DDR verpönt. Ich habe damals in den 1960ern in Weimar an der Musikhochschule studiert. Da bekam man dann eine Vorladung vor den Senat der Hochschule: «Was soll unser Meister Bach dazu sagen, wenn Sie das Improvisation nennen?» Das änderte sich erst in den 1970ern. Dann haben sie uns sogar gefördert und uns schließlich auch rausgelassen. Um 1979/1980, gab es nur noch einen Aufpasser, der mitfuhr. Der wurde der DDR dann aber auch zu teuer. Dann haben sie ihn weggelassen, weil wir immer brav nach Hause gekommen sind, und schließlich konnten wir fahren, wie wir wollten. Ich hatte dann zeitweise Dauervisa und konnte immer hin und her, bin tausende Male durch den Tränenpalast gegangen. — Und irgendwann mal den Gedanken gehabt, doch nicht zurückzugehen? — Irgendwann schon mal. Das war um 1982. Die politische Großwetterlage war nicht so günstig. Dann haben sie einen Haufen Konzerte nicht genehmigt, wir durften nicht zu Festivals. Da hatte ich dann mal überlegt, aber danach lief es wieder. Ich wohnte damals in einer Ladenwohnung in Friedrichshain, für 49 Ostmark. Es ging mir gut. Alle Westkolleg*innen sagten, die DDR sei das Eldorado des Free Jazz (lacht). Ich habe die Idee also wieder verworfen. Ich kannte ja mittlerweile auch schon die Lage der Musiker in Westdeutschland oder Westberlin – und die war natürlich überhaupt nicht so rosig. — Warum haben die Westmusiker*innen die DDR als Free Jazz-Eldorado beschrieben? — Wenn sie in Westberlin oder irgendwo in Westdeutschland ein Konzert gegeben haben, da waren vielleicht 30 Leute. Und wenn sie in der DDR spielten, da waren mindestens 300. Die Leute waren gierig. — Wir haben viel über Ost- und Westberlin gesprochen: Können Sie sich an die 750-Jahr-Feier erinnern? Haben Sie daran aktiv teilgenommen? — Das war 1987, ja. Da veranstaltete die FMP in ihrem Studio eine Serie von Konzerten, ich glaube, es waren alles Piano-Solos. Und da ich sowieso einen Pass hatte, bin ich dort rübergegangen. Man hat uns noch gesagt: «Kein Konzert in Westberlin.» Ich bin einfach trotzdem dorthin gefahren zu den Konzerten, und dann kam Jost Gebers, der Chef, zu mir und sagte: «Unser amerikanischer Kollege hat ein Problem mit dem Arm, Sehnenscheidenentzündung. Kannst du für ihn einspringen?» – «Ja, dann musst du aber allen Journalisten sagen, dass sie das nicht erwähnen». Und dann habe ich dort gespielt, er hat es mitgeschnitten und das ist Anfang der 1990er als CD erschienen. Ich nannte es einfach «The Secret Concert». — Wie hat sich die Jazz-Szene nach dem Fall der Mauer verändert? — Zumindest im Osten ist es offener geworden, das ist ja klar. Ich weiß nicht, inwieweit sich das im Westen verändert hat. Wir durften eben nun endlich in die Welt. Das durften wir ja auch schon vorher, also wussten wir ungefähr, was da so läuft und wie es für die Musiker läuft. Aber sehr viele sind erst mal in ein Riesenloch gestürzt in der DDR. Ich hatte ab 1990 einfach nur das Glück, dass mein alter Freund Matti Geschonneck anfing, Filme zu machen, einen Film nach dem anderen, und ich durfte die Musik dazu schreiben. Und dann hat er noch ein paar Berliner Tatorte mit Günter Lamprecht gedreht, für die ich die Musik komponiert habe. Dadurch ging es mir einigermaßen gut. — Ich habe noch eine Frage, die zum Anfang zurückführt: Wie sind Sie denn das erste Mal mit dem Jazz in Kontakt gekommen? Wie haben Sie den Jazz entdeckt? — Ich glaube, ich war 15 Jahre alt, in der 9. Klasse. Ich bin in einer Kleinstadt in Thüringen zur Schule gegangen. Es gab dort an der Schule einen Lehrer für Kunst, der selbst Künstler war, ein Maler – unkonventionell bis zum Gehtnichtmehr. Wenn es regnete, kam er mit einem Regenschirm auf dem Moped auf den Schulhof gefahren. Der hat uns sehr viel beigebracht. Er hatte selbst auch ein paar Jahre Musik studiert und Cello gespielt. Jedenfalls war der Musiklehrer an dieser Schule eines Tages ausgefallen. Und dann kam dieser Kunstlehrer – wir nannten ihn nur Meister Franke – rein und meinte: «So, jetzt muss ich Ihnen auch noch die Musik beibringen» (lacht). Man hatte ihn also überredet, den Musikunterricht zu übernehmen. Und dann hat er einfach gesagt: «Also, unter guter Musik verstehe ich Barock, Klassik, Moderne und Jazz». Und wir: «Was? Wir haben keine Ahnung von Jazz.» — Hatten Sie den Begriff auch gar nie gehört? — Ja, schon, aber ich konnte damit nichts anfangen. In unserem Elternhaus war es verboten, überhaupt Schlager oder so etwas Ähnliches zu hören, nur Klassik (lacht). Jedenfalls gehe ich in dieser Kleinstadt mit dem Begriff Jazz in den einzigen Plattenladen und frage: «Haben Sie Jazzplatten?» Und da zeigte mir der Verkäufer 10-Zoll-Scheiben aus Polen, die kosteten 9,40 Ostmark. Das war 1960. Als Schüler hatte man ja sowieso kaum Geld, aber eine Scheibe habe ich mir trotzdem gekauft – und die habe ich sogar immer noch.

 
 

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Alois Prinz: Das Leben der Simone de Beauvoir – Die Frau, die kam und blieb

24.11.2021NewsThe New York TimesAlois Prinz – Harry Nutt —   –  Details

Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre

Rassismus, Kolonialismus, Feminismus – keines der heute brandaktuellen Themen, das nicht schon von der französischen Ikone durchdacht worden ist. Eine Biografie über Simone de Beauvoir — Wer als junger Mensch in den 60er und 70er Jahren sozialisiert wurde, kam nicht umhin, sich irgendwann mit der Lebensweise des französischen Intellektuellenpaares Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre auseinanderzusetzen. Ihr Leben oder das, was man darüber zu wissen meinte, wurde zum Vorbild oder zum Gegenstand heftiger Ablehnung. Ihre lebenslange Beziehung gilt heute als Modell einer geistigen und emotionalen Bindung, in der doch jeder seine Persönlichkeit zu entfalten vermochte. Für Risiken und Nebenwirkungen gab es keine Packungsbeilage.

Simone der Beauvoir und Jean-Paul Sartre blieben ein Leben lang beim distanzierten Sie. Obwohl oder weil ihre Verbindung früh auf Dauer angelegt war, duldeten sie wechselnde Partnerschaften. Einige Liebschaften Sartres mündeten später in engen Freundschaften zwischen Beauvoir und der anderen, ihr erster, 1943 erschienener Roman «Sie kam und blieb» handelte von einer ebensolchen Dreiecksbeziehung. — Gemeinsam lehnten sie bürgerliche Lebensweisen ab, die meiste Zeit wohnten sie in billigen Hotels, Eigentum, von ein paar Büchern abgesehen, galt als verpönt. Geld, das übrig bleibt, war für Sartre ein Ärgernis, immer wieder unterstützten sie in den anhaltenden Phasen ihres Ruhms und Reichtums junge Kollegen oder politische Projekte. Sie machten sich nichts aus ihrer Berühmtheit, die sie allerdings durch ihre permanent öffentlich verhandelten Haltungen und Ideen weiter anhäuften.

Die große Autobiografin Ist vor dem Hintergrund vieler zehntausend Seiten, die als autobiografisch durchgehen, selbst wenn diese nicht als solche gekennzeichnet sind, eine weitere Biografie angebracht? Noch dazu eine, die erstaunlich schmal ist und sich konventionell-chronologisch am Leben der 1908 geborenen und 1986 gestorbenen Schriftstellerin und Feministin Simone de Beauvoir orientiert. — Der Literaturwissenschaftler Alois Prinz geht das Risiko ein, angesichts der Stofffülle in Bezug auf philosophische Fragen des Existenzialismus und einer sich von der Emanzipationsbestrebung zum Feminismus politisierenden Bewegung als Autor eines unterkomplexen Konzentrats betrachtet zu werden. Und tatsächlich wird man dieses Buch nur mit Gewinn lesen, wenn man es als Zettelkasten zu einer fortgesetzten oder neu aufzunehmenden Primärlektüre begreift. — Dann aber wird deutlich, wie viele der heute virulenten Debatten – Rassismus, Kolonialismus, Geschlechterpolitik, Cancel Culture – durch dieses Jahrhundertleben hindurchgegangen sind. Lernen ließe sich daraus auch, dass die Inspirationskraft der Simone de Beauvoir aus ihrem unbändigen Drang zum Wissen hervorgegangen ist und der Bereitschaft, Widersprüche in Literatur zu verwandeln, in der sich ihre Ideen erprobten. (…)

 
 

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Münchner Plattenläden in der Corona-Krise: Es wird sehr kritisch

23.11.2021NewsBayern 2Dominik Petzold —   –  Details

Christos Davidopoulos

Ein guter Plattenladen ist ein besonderer Ort. Es geht nicht nur ums Kaufen, sondern auch um die Atmosphäre und die Gespräche: Die Besitzer haben Tipps, die all den «Empfehlungen» vorzuziehen sind, die Algorithmen auf Streaming-Portalen oder Amazon so zusammenrechnen. — Und Kunden mit gleichem Geschmack kommen leicht ins fachsimpelnde Gespräch. Doch bald könnten diese Vinyl-Oasen Corona zum Opfer fallen: Seit dem neuerlichen Lockdown stehen Plattengeschäfte mit dem Rücken zur Wand – auch bekannte Münchner Institutionen wie «Optimal Records». — Plattenladen «Optimal Records» lief nach erstem Lockdown gut — Dabei lief es für das Geschäft in der Kolosseumstraße im Glockenbachviertel nach dem ersten Lockdown gut, sogar etwas besser als in anderen Jahren. «Es sind weniger Leute gekommen und gar keine Touristen», sagt Christos Davidopoulos, der den Laden leitet, der in einigen Reiseführer vorgestellt wird. «Aber die Leute waren kauffreudiger.» Auch die ersten Dezemberwochen liefen gut, doch dann kam der Lockdown. — Der Umsatz brach ein, und jetzt sitzt Davidopoulos auf zahllosen Platten, die er für das Weihnachtsgeschäft bestellt hatte. «Da kam zum Beispiel die neue Platte von Paul McCartney raus, die Nachfrage war riesig, wir haben zwanzig Stück bestellt und dann gerade mal zwei, drei per Versand losgekriegt.» Nun wollen Davidopoulos und seine Kollegen diese und zahllose weitere Platten an die Vertriebe zurückschicken und hoffen auf deren Kulanz. «Wir brauchen ja Geld, um Neuheiten zu kaufen. Die werden veröffentlicht, als ob nichts wäre», sagt Davidopoulos.

 
 

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Unabhängiger Plattenladen ‹Optimal› / Wichtigster Ort von Wahnmoching

23.11.2021NewsBayern 2Georg Oswald —   –  Details

Optimal Schallplattenladen

München leuchtet ganz hell. Auch dank des Schallplattenladens Optimal — Der Plattenladen «Optimal» ist eine Münchener Institution. Zum Anlass seines 40-jährigen Bestehens wird gefeiert. Hier kommt die fällige Huldigung. — «Eigentlich ist es ein Wunder, dass es uns als Laden noch gibt», sagt Peter Wacha, genannt Upstart, und er hat recht. Das «Optimal» ist wahrscheinlich einer der ältesten unabhängigen Plattenläden Deutschlands, womöglich sogar in ganz Europa. Wer ihn heute an seinem inzwischen dritten Standort in der Münchner Kolosseumstraße besucht, fragt sich, wie sich so ein Laden, den man eher in Berlin-Kreuzberg erwarten würde, ausgerechnet an einem der mittlerweile teuersten Immobilienplätze Europas 40 Jahre lang hat halten können. — Seine Anfänge machte Upstart 1980 im «Lipstick», einer der ersten Punkkneipen in München, wo er auch als DJ auflegte und selbst 7-Zoll-Singles im Bauchladen verkaufte. Er verteilte dazu fotokopierte Zettel und Interessenten konnten bei ihm Punk- und Reggaeplatten bestellen, die sonst nirgendwo in München zu haben waren. — Zu jener Zeit galt die 7inch, also das, was landläufig «Single» genannt wurde, als Goldstandard der Musikindustrie. Die Albumcharts waren wichtig, aber die Singlecharts setzten die Trends und sorgten für massenhafte Verkäufe. Es war das einzige Medium, auf dem Musik schnell und mit 6 DM halbwegs preiswert verfügbar war. — Mit Dreieinhalb Mille zu Rough Trade — Selbst wenn man die Zeit erlebt hat, vergisst man leicht, wie schwierig es war, an die Musik zu kommen, die einen interessierte. Das machte Platten zu Kostbarkeiten. Upstart kratzte sein ganzes Geld zusammen, 3.500 Mark, und flog nach London, um bei Rough Trade, einem unabhängigen Musikvertrieb und Plattenladen, einzukaufen. Gerade in diesem Moment erlebte Rough Trade einen spektakulären Erfolg: «Ghost Town», eine Single der Skaband The Specials, kletterte auf Platz eins der britischen Charts. — Ein kleiner, unabhängiger Vertrieb brach in einen Musikmarkt ein, den bis dahin die Majorlabels der Musikindustrie unter sich aufteilten. Upstart investierte alles, was er hatte, in unabhängige Platten und ließ sie nach München liefern. — 1982 eröffnete Upstart, damals gerade zwanzigjährig, zusammen mit Peter Blaha den Plattenladen «Optimal», um die Ecke vom heutigen Standort, in der Hans-Sachs-Straße. Das erste Domizil war ein ehemaliger Friseursalon, neben einem Milchgeschäft. Damals war das Glockenbachviertel das, was man in München «Glasscherbenviertel» nannte. Einfache Leute, die ihre Wohnungen in schlichten Altbauten mit Kohle und Holzöfen beheizten.

 
 

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Sonic Sensations: Bilderbücher über Nina Simone und Jimi Hendrix

12.11.2021NewsThe New York TimesDaphne A. Brooks —   –  Details

Nina Simone

Das Schreiben von Kinderliteratur über unsere berühmtesten schwarzen Musiker des 20. Jahrhunderts ist eine schwierige Nadel. Die Geschichten über ihre Ursprünge und ihren Aufstieg zum Star sind so tief verwoben mit den Kräften des systemischen Rassismus – Jim-Crow-Segregation, sozioökonomische Ungleichheit und die Beleidigung alltäglicher Diskriminierung –, dass jedes ehrliche biografische Profil für junge Leser einen schmalen Grat zwischen der Vermittlung der Nöte der schwarzen Kindheit und feiert die Schönheit und das Wunder des jugendlichen musikalischen Genies, das Wurzeln schlägt (manchmal als Antwort auf diese Nöte). Die Besten dieses Genres schlagen einen Ton an, der die echten Bestrebungen und das unverwechselbare Handwerk des angehenden Künstlers hervorhebt und gleichzeitig einen Einblick in die spezifischen historischen Herausforderungen bietet, denen sich ein Volk gegenübersieht, das für die Freiheit kämpft. — Obwohl es sich um sehr unterschiedliche Bücher handelt, sind sowohl Traci N. Todds leuchtendes «Nina» (mit Bildern des preisgekrönten Christian Robinson), das das Leben und die Karriere der Musikerin Nina Simone aus der Bürgerrechtsära erforscht, als auch Charles R. Smith Jr. ›s psychedelischer Liebesbrief «Song for Jimi» (mit Bildern der kubanisch-amerikanischen Illustratorin Edel Rodriguez), der dem wegweisenden Rock ›n› Roll-Gitarrenhelden Jimi Hendrix folgt, schafft diese schwierige Balance. — NINA — Eine Geschichte von Nina Simone — Geschrieben von Traci N. Todd — Illustriert von Christian Robinson

SONG FOR JIMI — Die Geschichte der Gitarrenlegende Jimi Hendrix — Geschrieben von Charles R. Smith Jr.

 

Illustriert von Edel Rodriguez

 
 

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Anrufung des Himmels aus der Unterwelt – Nduduzo Makhathini

08.11.2021NewsTagesspiegelGregor Dotzauer —   –  Details

Nduduzo Makhathini

Faszinierender Jazz – Spiritueller Charismatiker. Nduduzo Makhathini im Betonsaal des Silent Green.

 

Eben noch Kairo, zuvor São Paulo, dazwischen New York und Amsterdam. Mal virtuell als Livestream, mal als vorproduziertes Video, mal leibhaftig nach Berlin importiert: Das Jazzfest schaltet sich im Stundentakt durch die Kulturen und Kontinente. Abgesehen davon, dass auch die pandemische Not die hybride Präsentation erzwingt, offenbart sich im schnellen Wechsel eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die man als selbstverständliche Signatur des Zeitalters lesen kann wie als ästhetischen Gewaltmarsch. — Die Musik reagiert darauf, indem sie Brüche und Kontraste offen auskostet, indem sie sich ihr jeweiliges Pidgin zurechtknetet oder tatsächlich eine neue Sprache findet. Das Publikum im Silent Green, in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder am heimischen Rechner muss anders mit dieser Simultaneitätserfahrung umgehen. Durch die festivalübliche Parallelität vieler Konzerte stellt sich ein zusätzliches Moment von Überforderung ein: Immer wieder drängt sich das leise Gefühl auf, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, weil das wirklich Wichtige womöglich nebenan geschieht.

 
 

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Sommermärchen mit Mick Jagger / Die Rolling Stones in der Berliner Waldbühne

08.11.2021NewsTagesspiegelRüdiger Schaper —   –  Details

Mick Jagger

Top in Form: Mick Jagger in der Waldbühne — Es war heiß. Und es war wunderbar: Die älteste und beste Rockband der Welt begeistert zum Abschluss ihrer «Sixty»-Jubiläumstour in Berlin.

 

Als Encore spielen sie an diesem Mittwochabend «Sympathy For the Devil» und «(I Can›t Get No) Satisfaction», zwei ganz dicke Nummern. Aber sollte man nicht diese ganze «Sixty»-Jubiläumstour durch Europa mit ihrem Finale in Berlin als Zugabe betrachten? Sind die Rolling Stones nicht einen Punkt angelangt, wo alles bereits Bonus ist? — Bob Dylan kommt mit 81 im Oktober auch noch einmal zu uns auf seiner «never ending tour», doch das ist etwas anderes. Die Rolling Stones haben als Band überdauert, die große Arenen füllt und Massen bewegt, immer noch. Für ihre Verhältnisse bietet die Waldbühne einen vergleichsweise intimen Rahmen – was für ein Glück für das Publikum! Ob man ihnen jemals wieder so nahe sein wird?

 
 

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