18.06.2023 – News – Berliner Zeitung – Cornelia Geißler — – Details
Anne Berest
Vier Vornamen stehen auf der Postkarte, die im Januar 2003 bei Anne Berests Mutter Lélia eintrifft: Ephraim, Emma, Noémie, Jacques. Mehr nicht, kein weiterer Text, kein Absender, nur die nicht ganz korrekte Adresse, die der Briefträger trotzdem gefunden hat. Gemeinsam beugen sich am Wochenende drauf die Eltern und die hinzugerufenen drei Töchter über die Karte, interpretieren die Ansicht, die Schrift, den Inhalt. «Mir selbst war die Postkarte völlig egal», schreibt Anne Berest, die damals 24 Jahre alt war. «Die Liste der Namen dagegen ließ mich aufhorchen. Diese Menschen waren meine Vorfahren, und ich wusste nichts über sie.» Es waren Lélias Großeltern mütterlicherseits, ihre Tante und ihr Onkel, 1942 in Auschwitz ermordet. — Im Juni 1940 begann die Besetzung eines großen Teils Frankreichs durch die deutschen Truppen. «Das Besondere dieser Katastrophe beruht auf dem Paradox ihres zugleich schleichenden und plötzlichen Eintretens», schreibt Berest. An der Familie Rabinovitch ist das zu sehen: Registrierung als Juden, Beschränkung der Arbeitsmöglichkeiten, der Schulen, der Fortbewegung, Abgabe von Besitztümern. Aus Polen, wo Emmas Eltern leben, treffen keine Nachrichten mehr ein. Dann muss auch Ephraim alle Wertgegenstände auflisten, die der Familie verblieben sind, dann werden die Kinder Noémie und Jacques, 19 und 17 Jahre alt, abgeholt, schließlich die Eltern Ephraim und Emma deportiert. — Der Roman «Die Postkarte» erzählt auf unerwartete, unkonventionelle und schwindelerregend gegenwärtige Weise von diesen vier Menschen und von der Suche nach dem Absender. Anne Berest, die 1979 in Paris geborene Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin, hat ihn in vier jeweils als «Buch» bezeichnete Teile gegliedert: «Gelobte Länder», «Erinnerungen eines jüdischen Kindes ohne Synagoge», «Die Vornamen» und «Myriam». Jeder umfasst eine eigene Art der Annäherung. Jeder ist um größtmögliche Faktizität bemüht und zurückhaltend emotional. Eine Ausnahme bildet der dritte Teil, ein kurzer Briefwechsel zwischen der Erzählerin und ihrer Schwester über eine spezifische Nähe zu den Vorfahren, die ihnen von den Eltern nach der Geburt auferlegt wurde. — Die aufgezwungene Identität — Die Unvergleichbarkeit des Holocaust bildet den Hintergrund auch solcher Debatten. Ob die Familie aus Riga stammt oder Warschau, aus Paris oder Berlin, kann völlig egal sein, doch ob man Jude ist oder nicht, macht einen Unterschied. Diese Erkenntnis begleitet die Erzählerin durch das Buch, sie begreift, dass alle Versuche ihres Urgroßvaters Ephraim, ihrer überlebenden Großmutter Myriam, ihrer Mutter Lélia, die jüdische Herkunft als unwichtig abzutun, misslangen. Es lag nicht in ihrer Hand. Die Identität wurde ihnen durch den Vernichtungsfuror der antisemitischen Ideologie aufgezwungen. — Was wurde eigentlich aus der Postkarte? Das Rätsel, wer sie abgesendet hat, durchzieht das Buch bis zum Schluss. Anne Berest lässt teilhaben an Erkundungsversuchen mit Detektiven, mit Ämtern, sie drängt Lélia, erhaltene Familiendokumente zu durchforsten, macht sich mit ihr auf eine Reise, die für die beiden Frauen schmerzliche Momente enthält. Wenn der Roman zu Ende geht, ist es die Geschichte noch lange nicht, sie führt mitten hinein in unsere persönliche Gegenwart. Es fühlt sich falsch an, Anne Berests Buch «Die Postkarte» nach dem Lesen ins Regal zu stellen. Man möchte es bei sich behalten, es beschützen.
— «Mir selbst war die Postkarte völlig egal», schreibt Anne Berest über die Zeit, da die Karte bei ihrer Mutter eintraf. Sie war 24 Jahre alt. «Die Liste der Namen dagegen ließ mich aufhorchen.»
SK-reko-23