23.06.2023 – News – Berliner Zeitung – Markus Schneider — – Details
Peter Brötzmann
Der große Free-Jazz-Saxofonist Peter Brötzmann ist gestorben. Wir erinnern uns mit einer Eloge, die wir zu seinem 70. Geburtstag gedruckt haben. Sie ist immer noch wahr. — Es bläst einen noch immer glattweg über den Haufen. 43 Jahre liegt die Veröffentlichung von Peter Brötzmanns «Machine Gun» (1968) zurück, aber das Album hat nichts von seiner mark- und beinerschütternden Wucht verloren. Wobei dieses zweite Album des am Sonntag siebzigjährigen Saxofonisten aus Remscheid nicht allein wegen seiner klanglichen Qualität von historischer Bedeutung ist, sondern natürlich auch als einer der großen, definierenden Meilensteine des europäischen Free Jazz. — Immerhin brachte Brötzmann zu den Octet-Aufnahmen – neben seinem Kern-Trio aus dem Bassisten Peter Kowald und dem Drummer Sven-Ake Johansson – auch die Saxofonisten Willem Breuker und Evan Parker mit, den Pianisten Fred van Hove sowie Han Bennink am zweiten Schlagzeug und Buschi Niebergall als zweiten Bassisten – Schweden, Belgier, Holländer, Briten und Deutsche, die seit 1966 auch zum Kreis der Free-Jazz-All-Stars des Globe Unity Orchestra gehörten, das Brötzmann und Alexander von Schlippenbach initiiert hatten. — Brötzmann kam als einer der ersten Europäer in der Fire Music von Albert Ayler, Archie Shepp und John Coltrane an, als Grenzgänger zwischen Fluxus-naher Kunst, die er in Wuppertal studiert hatte, und einer Variante des Jazz, in der er, unter dem Einfluss von Cage und Stockhausen sowie mit einem gewissen autodidaktischen Schwung, die modalen Hard-Bop-Grenzen technisch und ideell über Bord warf.
(…) — Aber Brötzmann ist weder nur Zerstörer noch grober Klotz, obwohl das sogar noch die borstige, kompakte Erscheinung suggeriert. Brötzmann entwickelte sein Idiom entlang der ästhetisch-politischen Befindlichkeiten der Sechziger: ein ikonoklastischer Befreiungsschlag, aber mit dem utopischen Horizont, neue Möglichkeiten aufzuzeigen. Daher schwingt in seinem Spiel eben nicht nur Zorn und Revolte gegen Muff, europäische Tradition und US-Imperialismus. Sein massiver Ton ist auch eine raue, zärtliche Liebeserklärung ans musikalische Kollektiv und die Pioniere des Jazz, von Coleman Hawkins über Sonny Rollins bis zu Ayler, dem er, zusammen mit dem Bassisten William Parker, dem Drummer Hamid Drake und dem Elektro-Trompeter Toshinoro Kondo das Projekt Die Like A Dog widmete. — Es scheint zwangsläufig, dass er initial am Schisma mitwirkte, das 1968 zur Trennung des Improvisationsfestes Total Music Meeting vom Berliner Jazzfest führte. Als direkte Folge gründete er mit Jost Gebers, Peter Kowald und Alexander von Schlippenbach im Jahr darauf das Berliner Label Free Music Productions, zweifellos eine der einflussreichsten Institutionen des europäischen Free Jazz, die ihr betrüblich endgültiges Aus gerade mit einer angemessenen 12er-Box feiert. — 1967 verwies Brötzmanns erstes selbstproduziertes Album «For Adolphe Sax» denn auch nicht auf Politik oder Genre, sondern auf die Erfindung seines Instruments, also die Möglichkeit einer neuen Stimme. Peter Brötzmann gehört auch mit 70 noch zu ihren leidenschaftlichsten, respektvollsten und natürlich lautesten Aktivisten. — Dieser Text ist im Original in der Berliner Zeitung 2011 zu Peter Brötzmanns 70. Geburtstag erschienen. Am 22. Juni 2023 ist Peter Brötzmann verstorben.
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