16.06.2024 – News – ZEIT Online – Adam Soboczynski — – Details
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Brigitte Reimann
In den USA und in Großbritannien wird gerade die DDR in Büchern neu entdeckt – und in ein mildes Licht getaucht. Woran liegt das? — Dass die DDR noch einmal zu einem so großen Ruhm gelangt, hätte noch vor wenigen Jahren kaum jemand gedacht. Sobald ein deutsches Werk international Beachtung findet, darf man sich derzeit sicher sein: Es handelt von diesem kleinen, seit Langem zu Tode analysierten und nach dem Epochenbruch 1989 abgewickelten Land. Es sind vor allem drei Bücher über die DDR, die zuletzt im englischen und US-amerikanischen Raum wie Offenbarungen gefeiert wurden. Alle drei handeln vom Ringen der Ostdeutschen mit dem schlimmen Westen. Im vergangenen Jahr geriet Katja Hoyers Geschichtswerk Beyond the Wall (Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR) zum internationalen Bestseller. Erstaunliche Aufmerksamkeit erhielt in Amerika Brigitte Reimanns neu entdeckter Ost-West-Roman Siblings (Die Geschwister, 1963). Jenny Erpenbeck wiederum gewann mit ihrem Roman Kairos über die Spätphase der DDR vor wenigen Wochen den International Booker Prize. — Das ist nicht selbstverständlich. Im Gegenteil: Es ist ziemlich erklärungsbedürftig. Über Jahrzehnte wurden mit Vorliebe dissidentische Autoren aus dem Ostblock wie Wolf Biermann, Alexander Solschenizyn oder Czes aw Mi osz gerühmt, man entdeckte in den Nullerjahren die dem sozialistischen Staat abgewandte bürgerliche Kultur des Ostens im Roman Der Turm (Uwe Tellkamp) und konsumierte Oscar-prämierte Filme über das Grauen der Stasi wie Das Leben der Anderen. Werke über die DDR, die heute international Aufmerksamkeit bekommen, haben eine Gemeinsamkeit: Sie bieten einen wohlgesinnten, mitunter sogar liebevollen Blick auf den Sozialismus. So unterschiedlich die Bücher von Erpenbeck, Hoyer und Reimann auch sind – hier wird mit der DDR zwar gehadert, aber es war nicht alles schlecht. Vor allem im Vergleich zum Westen. — Der erscheint in Erpenbecks Kairos als Hölle des Vulgären. Der Roman spielt in Ost-Berlin. Wir befinden uns Mitte der Achtzigerjahre, Intellektuellenmilieu, Wein, Korn, Sex. Erpenbecks junge Protagonistin Katharina verstrickt sich in eine stürmische und fatale Beziehung zum über 30 Jahre älteren Schriftsteller Hans. Sie darf die Großmutter in Köln besuchen, unglücklich, weil sie den Freund ein paar Tage verlassen muss – und was sie im Westen erblickt, ekelt sie einfach nur an: Bettler am Bahnhof, der klinisch reine McDonald›s, Ramschläden in der Fußgängerzone. Die Neugierde treibt sie schließlich in einen Sexshop: — (…) offene Münder, offene Arschlöcher, pralle Schamlippen, faltige Hoden, alles wetzt sich aneinander, reibt sich, zieht sich auseinander, presst, würgt, lutscht sich aus, saugt sich fest, spuckt sich an, sie sieht also hier, am Grunde der Freiheit, Titten und Schwänze und Fotzen, sieht Ständer und Mösen, sieht dicke Dinger, geile Zungen, sieht Flüssigkeiten hervorquellen aus Eicheln (…).» Das ist der Westen, und viel mehr wird von ihm hier nicht gezeigt. Freiheit? Das ist in Kairos nur die obszöne Freiheit des Konsums. — Brigitte Reimann 1964 in Hoyerswerda.
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