‹Il Grido› / Liebe und Verlust im italienischen Po-Tal

09.11.2024NewsThe New York TimesJ. Hoberman —   –  Details

Il Grido

Lange Zeit stand dieser Film im Schatten der späteren Werke Michelangelo Antonionis, nun wird er in frisch restaurierter Form im Film Forum wiederaufgeführt, mitsamt den einst zensierten Szenen. — Steve Cochran als Aldo und Dorian Gray als Virginia in «Il Grido». — Michelangelo Antonioni sorgte 1960 mit «L›Avventura» bei den Filmfestspielen von Cannes für Verwirrung, doch dieses hochmoderne Vermissten-Mysterium kam nicht aus dem Nichts. Drei Jahre zuvor gewann der italienische Meister mit einem kaum weniger radikalen Film, der existenziellen Liebesgeschichte «Il Grido» (Der Schrei), den Hauptpreis beim Festival von Locarno. — «Il Grido» stand lange Zeit im Schatten von Antonionis späteren Werken und erlebt nun im Film Forum eine seltene Wiederaufführung in einer neuen Restaurierung, komplett mit mehreren einst zensierten Szenen. — Untermalt von den Klängen einer Drehleier-Tarantella verfolgt «Il Grido» die zirkuläre Reise des gelernten Fabrikarbeiters Aldo (der raue amerikanische Schauspieler Steve Cochran), der, von seiner langjährigen Lebensgefährtin Irma (Alida Valli) abgewiesen, mit gebrochenem Herzen durch die Po-Ebene im Norden Italiens wandert. — Aldo, der anfangs von seiner 6-jährigen Tochter Rosina (Mirna Girardi) begleitet wird, nimmt ein paar Gelegenheitsjobs an und hat mit mehreren Frauen zu tun. Als nicht unattraktiver, wenn auch finsterer Typ schaut er zuerst bei der Verlobten vorbei, die er sitzengelassen hat (der auf der schwarzen Liste stehenden amerikanischen Schauspielerin Betsy Blair), nur um am nächsten Morgen wieder abzureisen. Er steckt in einer Tankstelle im Nirgendwo fest und hat kurz etwas mit der Besitzerin Virginia (Dorian Gray, ihre Stimme wurde von Antonionis Muse Monica Vitti synchronisiert), einer lüsternen Witwe mit einem alkoholkranken Vater. — Um Virginia einen Gefallen zu tun, schickt Aldo Rosina mit dem Bus nach Hause, macht sich dann aber selbst davon und stößt schließlich auf eine temperamentvolle Prostituierte, Andreina (die britische Schauspielerin Jacqueline Jones, unter dem Namen Lyn Shaw), die an einem verarmten Flussabschnitt arbeitet. Ihre kurze Liaison ist für beide alles andere als zufriedenstellend. Während sie mit ihr am Po entlang gehen, beginnt Aldo zu erzählen, wie er Irma kennengelernt hat, und verfällt dann in verwirrtes Schweigen. «Was ist das für eine Geschichte?», fragt Andreina. — Aldo, der einzige Protagonist aus der Arbeiterklasse in Antonionis Werk, ist in seinen Gedanken verloren und scheint nicht zu bemerken, dass der Po über die Ufer getreten ist oder dass seine Heimatstadt, die von der Regierung als Standort für einen neuen Flugplatz ausgewählt wurde, kurz vor dem Verschwinden steht. Das Universum ist gleichgültig. Die Welt hat keinen Platz für ihn. Die kargen, nebligen Landschaften und das melancholische Klaviergekritzel des Films scheinen seine Orientierungslosigkeit widerzuspiegeln. — Obwohl «Il Grido» ebenso ziellos erscheinen kann wie Aldo, ist der Film voller Ereignisse und reich an Subtext. Das Bild von Aldo und Rosina auf der Straße erinnert unweigerlich an zwei italienische Klassiker, Vittorio De Sicas «Fahrraddiebe» und Federico Fellinis «La Strada». Doch trotz gelegentlicher Verweise auf den Klassenkampf ist «Il Grido» kein linker Gesellschaftstraktat. Ebenso wenig ist es eine katholische Fabel. Die düstere und doch drollige Szene, in der Aldo und Virginia versuchen, in einem Straßengraben Liebe zu machen, könnte von Samuel Beckett stammen. — Virginias betrunkener Vater bringt Rosina einmal eine Revolutionshymne bei, doch eine solche Solidarität ist für Aldo unvorstellbar. Er kehrt in sein Dorf zurück und findet Arbeiter und Bauern in einem höchstwahrscheinlich vergeblichen Kampf gegen die Regierung vereint vor. Ohne zu wissen, dass die Felder in Flammen stehen, sucht Aldo nach Irma, nur um festzustellen, dass sie ohne ihn glücklich geworden ist. (…)

 
 

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