03.09.2024 – Gedanken für den Tag – Ö1 – Martin Sieghart — – Details
Anton Bruckner
Wer Bruckner liebt, kann sich getrost alle seiner Werke anhören. Viele sind es ja nicht, wenn man sein Oeuvre mit dem der meisten anderen Großen vergleicht. — Wer ihn verstehen will, sollte sich die 6. sehr genau hernehmen. Sie führt ein stiefmütterliches Dasein. Ja, der vierte und letzte Satz fallen ab, aber da steht die 6. doch nicht alleine. Er hatte es vielleicht nicht so mit den genialen Schlusssätzen, sieht man von der 4. und der 8. ab, wie sie später einmal ein Mahler komponieren konnte. — Aber diese 6. schenkte mir den Schlüssel zum Menschen Bruckner. Nie davor oder danach hat er seine Seele so schonungslos geöffnet, uns tief und immer noch tiefer in seine kranke, wundersam herrliche und großartig gescheiterte Existenz blicken lassen wie in diesem Werk. Schon der erste Satz, an dessen Beginn alles so weit in Ordnung zu sein scheint, ehe nach kurzer Zeit die Musik in sich zusammenbricht, erschüttert mich beim Dirigieren, aber genauso beim Zuhören immer bis in die Tiefe meiner Seele. Alles so düster, ohne Ziel, aber dann wieder die Arme ausstreckend, flehend um die Hilfe «seines» geliebten und gefürchteten «lieben Gottes.» — Jahrelang hat mich keiner eingeladen, diese Symphonie wieder zu dirigieren, im nächsten Jahr ist es endlich wieder so weit. In Budapest. Und ich sitze fast täglich über der Partitur, die ich so gut zu kennen glaube. Und finde immer etwas Neues, Unerhörtes. Ja, das ist Bruckners Ambivalenz: Seine Partituren scheinen beim ersten Lesen schon alles zu verraten, aber dann wird es erst kompliziert. Je mehr man sich ihnen nähert, umso rätselhafter werden sie.
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