Die Tonbandrevolution des russischen Pazifisten Bulat Okudschawa

08.05.2024NewsBerliner ZeitungKatja Lebedewa —   –  Details

Bulat Okudschawa

Nach Stalins Maßstäben war er der Sohn eines Volksfeindes, für Liedermacher wie Wyssozki und Biermann war er ein Vorbild. Zum 100. Geburtstag des Gitarrenlyrikers Bulat Okudschawa — März 1981, Leningrad, UdSSR. Der sowjetische Dichter, Schriftsteller, Drehbuchautor und Komponist Bulat Okudschawa tippt auf einer Schreibmaschine in seiner Datscha. — «Damals sangen wir alle Okudschawa», erinnerte sich der Dichter Jewgeni Jewtuschenko an die 60er-Jahre, als während des Tauwetters nach Stalins Tod 1953 eine junge russische Dichtergeneration antrat: «Die Jugend stürzte sich auf die Lieder Okudschawas wie auf einen läuternden Quell der Hoffnung. — Diese Lieder verbreiteten sich blitzschnell im ganzen Land, obwohl sie noch kein einziges Mal über Radio oder Fernsehen gesendet wurden. Sie erklangen von Tonbändern in den Wohnungen von Arbeitern, Ingenieuren, Physikern und Lyrikern. Man sang sie zur Gitarre auf Baustellen, in Zügen.» — Okudschawa (oder, lautsprachlich transkribiert: Okudshawa) begründete ein Genre, das Text, Melodie und Interpretation ein und desselben Autors verband, wobei der Text dominierte: die Gitarrenlyrik. In Okudschawas Kindheit, den 30er- und 40er-Jahren, war die Gitarre als Symbol der Gaunerwelt in der offiziellen sowjetischen Kultur geächtet. Als Musikinstrument wurde sie erst nach 1960 rehabilitiert. Auch dieses Tabu brach der Liedermacher in den 50er-Jahren, als er dem patriotischen Stil sowjetischer Dichtung der Stalinzeit und den ideologischen Sprachschablonen eine individuelle poetische Sprache entgegensetzte. — Vater im Straflager, Mutter in der Verbannung — Als siebzehnjähriger Freiwilliger ging Okudschawa nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion an die Front, wo er 1942 verwundet wurde. Die 1961 erschienene autobiografische Kriegserzählung «Leb wohl Schüler», in der Okudschawa seine Angst und Verzweiflung im Irrsinn des Krieges schilderte, wurde wegen «Pazifismus» verboten. Ab 1956 trug er in Wohnungen von Freunden die von ihm gedichteten und komponierten Lieder zur Gitarre vor. Seine erste Schallplatte durfte in der UdSSR erst 1976 erscheinen. — Die staatliche Verschwörung des Schweigens jedoch wurde durch die Tonbandgeräte gebrochen, die in der UdSSR ab 1960 produziert wurden. Einmalig in der Geschichte sowjetischer Kultur expandierte eine verbotene künstlerische Strömung zur Massenkultur. Bulat Okudschawa wurde neben Wladimir Wyssozki, der Okudschawa als seinen Lehrer bezeichnete, zum bekanntesten sowjetischen Liedermacher. Die Tonbandrevolution machte die Gitarrenlyrik zu einem kulturellen und gesellschaftlichen Ereignis. Der Magnetizdat veränderte die Struktur der Öffentlichkeit, da er eine schnellere und breitere Rezeption ermöglichte, als sie der Samisdat (Selbstverlag) per Schreibmaschinenkopien leisten konnte.

 
 

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