100 Stunden, Tag und Nacht: Tania Bruguera liest Hannah Arendt

06.02.2024NewsBerliner ZeitungIngeborg Ruthe —   –  Details

Tania Bruguera

Im Hamburger Bahnhof lehrt uns die Stimme der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera bis Sonntag die «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft». — Ja, es wird ein Marathon für den Gehörsinn, die Hirnregion, wohl auch die Sitz- und Stehmuskulatur, wenn die 1968 geborene Kubanerin mit ihrer warmen, dunklen Stimme in der historischen Halle des Hamburger Bahnhofs vom heutigen Mittwochabend an bis Sonntag kurz vor Mitternacht, im stündlichen Wechsel mit anderen Vorleserinnen und Vorlesern, aus Hannah Arendts größtem politischen Werk liest. Auf Deutsch und Englisch. — Die Zuhörenden tauchen tief ein in «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft». Das Buch erschien 1955 auf Deutsch und die Jüdin, Kantianerin und einstige Martin-Heidegger-Schülerin Hannah Arendt untersuchte darin die historische Entstehung und die gemeinsamen politischen Merkmale des Nationalsozialismus und des Stalinismus. — Hannah-Arendt-Verehrerin Bruguera nennt ihre Tag-und-Nacht-Lese-Performance «Where Your Ideas Become Civic Actions (100 Hours Reading The Origins of Totalitarianism»). Als sie diese schon einmal zum Besten gab, zusammen mit Freunden im Mai 2015 in ihrem Haus in Havanna, dort per Lautsprecher Arendts schwerwiegendes Fazit «Der Kampf um totale Herrschaft im Weltmaßstab und die Zerstörung aller anderen Staats- und Herrschaftsformen ist jedem totalitären Regime eigen …» hinaus auf die Straße erschallen ließ, setzte der Geheimdienst Presslufthämmer ein. — Bruguera wurde verhaftet. Die Castro-Regierung fühlte sich angegriffen. Schon vorher war der politische Druck gegen die Tochter des einstigen Revolutionärs und Diplomaten Miguel Bruguera – treuer Kampfgenosse von Che Guevara und Fidel Castro – so groß, dass die Regimekritikerin damals nicht an der Havanna-Biennale teilnehmen durfte. Sie wurde schon länger observiert, denn nach der Verkündung der geplanten Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Kuba und den USA im Dezember 2014 hatte sie an den Staatspräsidenten Raúl Castro einen offenen Brief geschickt. Sie forderte ihn zur Definition der politischen Zukunftsvision für das Land auf, verlangte Gleichberechtigung und politische Meinungsfreiheit für alle Kubaner.

 
 

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