02.02.2024 – News – Zeit Online – Lenz Jacobsen — – Details
Das heutige Parteiensystem
BSW gegen Linke, WerteUnion gegen Union: Die Parteienlandschaft wird immer kleinteiliger. Kein Grund, sich gleich zu gruseln. — In der Serie «Politisch motiviert» ergründen unsere Autorinnen und Autoren politische Themen der Woche. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 05/2024. — Vielleicht lässt sich das ominöse Früher, in dem vermeintlich alles besser war, in diesem Fall sogar konkret datieren: auf das Jahr 1969. Damals zogen nur drei Fraktionen in den Bundestag ein, Union und SPD teilten sich 94 Prozent der Sitze, die FDP bekam noch mickrige 6 Prozent ab. Das war›s. 1969 war der Höhepunkt von Volkspartei-Deutschland, nie mehr davor oder danach waren SPD und Union so dominant und die parlamentarischen Verhältnisse so klar. Und es scheint kein Zufall, dass exakt diese Jahre bis heute die Sehnsuchtszeit des deutschen Politikverständnisses sind: wegen der vermeintlich so viel besseren Politiker damals (Brandt! Wehner! Strauß!), aber auch wegen der so schön übersichtlichen Verhältnisse.
Was für ein Chaos hingegen heute! Sechs statt drei Fraktionen zogen 2021 in den Bundestag ein, SPD und Union stellen nur noch 55 statt 94 Prozent der Abgeordneten. Und nun kommen auch noch zwei Parteineugründungen hinzu, das Bündnis Sahra Wagenknecht, das durch die Abspaltung von der Linken bereits als Gruppe im Bundestag vertreten ist, sowie die WerteUnion.
Solche Unübersichtlichkeit löst in Deutschland besorgte Reflexe aus: Vor einer «Zersplitterung» des Parteiensystems warnte beispielsweise der SPD-nahe Demoskop Manfred Güllner, und allein diese Wortwahl ist bezeichnend: Denn was zersplittert, war vorher ganz und heil – und ist nun kaputt. In diesem Bild bleiben vom Parteiensystem, wenn es sich ändert und unübersichtlicher wird, nur noch Scherben. Güllner holt dann auch gleich noch den in diesem Zusammenhang unvermeidlichen historischen Hammer raus: Es drohten «Weimarer Verhältnisse». So wird aus der Gründung neuer Parteien im rhetorischen Handumdrehen ein demokratiegefährdender Akt.
An diesem in Deutschland verbreiteten Unwohlsein mit einer fragmentierten Parteienlandschaft, wie die Zersplitterung neutraler heißt, sind zwei Dinge bemerkenswert.
Erstens die Vorstellung, die Verhältnisse von 1969 seien eine Art deutscher Idealzustand, zu dem man tendenziell zurückfinden müsse. Dabei zeigen Historiker und Politikwissenschaftler seit Jahren immer wieder aufs Neue, dass die damalige Kombination aus Sicherheit, weltweitem Wirtschaftswachstum, starken Institutionen (Kirche, Gewerkschaften et cetera), Bildungsexpansion und Aufstiegsmöglichkeiten relativ einzigartig war. Die Stärke der Volksparteien war eher die Folge dieser Verhältnisse als ihre Voraussetzung. Das ist vorbei und kommt nie wieder. Selbst die Jahrzehnte, in denen durch den Aufstieg der Grünen vier Fraktionen im Bundestag saßen, gehören einer mittlerweile vergangenen Welt an. Und der ständige Blick zurück verstellt den Blick auf die Gegenwart. — Denn heute zeigen die Parteineugründungen, dass zumindest noch Leben in der Bude ist. Was wäre von einer Parteienlandschaft zu halten, die sich nicht ändert, wenn sich die Umstände ändern? 59 Prozent der Deutschen trauen keiner der Parteien mehr zu, die Probleme des Landes zu lösen – was liegt da näher, als ihnen ein neues Angebot zu machen? Die Demokratie muss dynamisch sein, sie muss sich verändern können, um stabil zu bleiben. — In den USA wäre man gern so flexibel — Im Vergleich zu den Zeiten von Willy Brandt und Franz Josef Strauß empfinden viele Deutsche das heutige Parteiensystem als chaotisch.
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