22.12.2023 – News – Zeit Online – Tobi Müller — – Details
Forty Licks
Pop, aber als Geisterbahn: Die heißesten Bands hießen 2023 The Beatles und The Rolling Stones – mal wieder. Das liegt nicht einzig an überalterten Gesellschaften. — Der US-amerikanische Extremkomiker Chris Farley führte 1993 ein Interview mit Paul McCartney für die Sendung Saturday Night Live und nahm darin unsere Gegenwart vorweg. Farleys Kunstfigur ist nervös, atmet schwer und beginnt jede Frage hilflos mit «you remember when you were with The Beatles …». Zu diesem Zeitpunkt gab es die Beatles auch schon 23 Jahre nicht mehr. McCartneys Band Wings brach bereits 1977 den Beatles-Rekord der meistverkauften Single im Vereinigten Königreich mit dem Schottensong Mull of Kintyre, außerdem war er in den USA auf Promotour für sein Soloalbum mit dem Hit Hope of Deliverance, einer schön leichten, cleveren Popnummer. Die Komik kam aus dem Gegensatz: Farley fragt zwar als unterwürfiger Fan, missachtet aber stinkfrech McCartneys gesamtes Werk nach den Beatles. — Und dann geschieht etwas Prophetisches in dieser 30 Jahre alten Gesprächsparodie (die der Ex-Beatle cool mitspielt). Farley fragt nach der beliebten Verschwörungstheorie, dass man beim Rückwärtsspielen einer Beatles-Platte die Botschaft höre, Paul sei in Wahrheit tot. Farley: «That was a hoax, right?» – das sei doch bestimmt eine Falschmeldung gewesen? McCartney: «Yeah, I wasn›t really dead.»
Ob tot oder lebendig, wirklich oder unwirklich, all das spielt heute tatsächlich kaum eine Rolle mehr. Die Superstars der Sechziger und Siebziger dominieren das Gespräch über Musik. Gut drei Jahrzehnte nach dieser Sternstunde der Popcomedy mit dem längst verstorbenen Farley und dem putzmunteren McCartney heißen die heißesten Bands der Stunde The Beatles und The Rolling Stones. Beide haben Tote zu beklagen, die noch lebenden Mitglieder beider Gruppen sind um die 80 Jahre alt. Abba treten schon etwas länger als Avatare auf. Und auch die ehemalige Kinderrockband Kiss will nach 50 Jahren harter Kostümparty bald eine Hologramm-Show ins Auge fassen. Pop, aber als Geisterbahn. — Hat in der Popöffentlichkeit jemand mehr Wind gemacht als die Rolling Stones mit ihrem Album Hackney Diamonds, und zwar schon viele Wochen vor der Veröffentlichung im Oktober? Und wieso klingt da Mick Jagger mit knapp 80 Jahren so kräftig wie nie in seiner Karriere? Ein Schelm, wer denkt, dass die Stimme mit einer Jagger-Simulation aus den Laboren der künstlichen Intelligenz verstärkt worden sei. — Gab es 2023 einen irreren Medienvorlauf für eine Veröffentlichung als für die Bastelei Now and Then, die als «letzter Beatles-Song» wie eine Offenbarung erwartet wurde? Was war so spektakulär daran, wenn eine hübsche Lennon-Skizze nun immerhin offen mit den Muskeln der KI und des Kapitals spielt und als orchestrale Beatles-Nummer verkleidet wurde, die sie bei Lennon ja gerade nie sein wollte? Warum sind wir dennoch gerührt, selbst wenn wir bei Tageslicht sehen, dass dieser musikalische Übergriff auf einen tatsächlich Toten vor allem einen Zweck hat: Aufmerksamkeit zu schaffen für abermals neu abgemischte Beatles-Werke, nun die berühmten roten und blauen Best-of-Doppelalben?
Nur ein Jahr später argumentierte der berühmteste Popkritiker aus England ähnlich, mit etwas weniger Humor vielleicht. Simon Reynolds› weltweit wahrgenommenes Buch Retromania, 2010 erschienen, legte ebenfalls dar, warum Pop seine alte Verbindung mit dem sozialen Fortschritt aufgegeben habe. Die Fixierung auf die Vergangenheit in allen erdenklichen Formen und Nischen vernichte jede aktuelle Relevanz, schrieb Reynolds. Pop sei deshalb nicht etwa schlechter geworden. Aber egaler. — «Forty Licks» funktionieren auch mit den Dritten, davon können die Rolling Stones gleich mehrere Lieder singen.
SK-reko-23news