Video-Botschaft: Putins Soldaten wollen sich nicht länger verheizen lassen

25.11.2023NewsFrankfurter RundschauHartwig von Schubert, Gerd Krumeich, Markus Reisner, Thorsten Loch, Sönke Neitzel, Christian Göbel — Karsten Hinzmann —   –  Details

Klagende Russische Soldaten

Sechs Monate ohne Feuerpause. Russische Soldaten betteln den Verteidigungsminister in einem Video um Freizeit an – und um Offiziere, die etwas taugen. — Der Mensch galt als Material, schreibt der deutsche Historiker Gerd Krumeich zum Wert eines Soldaten in der Schlacht um Verdun. Dieses Urteil könnte er heute wieder fällen über den Umgang Russlands mit seinen Soldaten im Angriffskrieg gegen die Verteidiger der Ukraine. Der russische Telegram-Kanal zeigt jetzt ein Video, in dem russische Soldaten ihren Verteidigungsminister Sergei Schoigu um Rotation anflehen – also um die zeitweilige Zurückverlegung von der Front in die Etappe zur Erholung. Sie betteln um eine Pause von der ständigen Lebensgefahr. — Laut der Kyiv Post zeigt das Video Soldaten von der Front bei Cherson. Neben ihrer Forderung nach Rotation beklagen sie sich gleichzeitig über die schlechte Führung durch ihren Kommandanten – er solle Schuld sein am Tod vieler Kameraden. Der britische Geheimdienst veröffentlicht immer wieder Informationen, nach denen fehlende Rotation und menschenverachtendes Verhalten im des Offizierskorps die Moral der russischen Truppen im laufenden Ukraine-Krieg stark dämpfen. «Es ist eine hohe Kunst, in den Kampf hineinzugehen, und aus ihm auch wieder, möglichst unversehrt an Leib und Seele, herauszukommen», sagt der deutsche Theologe Hartwig von Schubert vom Thinktank German Institute for Defence and Strategic Studies. In dieser Kunst versagt die Invasionsarmee Wladimir Putins auf ganzer Linie. — Die Soldaten im Video behaupten, sie seien in Krynky, einer Siedlung auf dem östlichen Ufer des Dnipro stationiert worden und hätten seit Juli keinen einzigen freien Tag erhalten. Darüberhinaus werfen sie ihrem kommandieren Offizier Unfähigkeit vor: Von drei Kompanien mit ihren jeweils bis zu 150 Mann wären nur noch 50 übrig. Die grundsätzliche Herausforderung der russischen Invasionsarmee liegt im Fehlen von genügend Infanterie. Das ursprünglich als «Spezialoperation» getarnte Unternehmen erinnert den Historiker Krumeich in seiner unausgegorenen Durchführung an die Fehleinschätzung der Deutschen gegenüber Frankreich im Ersten Weltkrieg, wie er im Deutschlandfunk im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg erklärt. — Das Dilemma Russlands hat Markus Reisner in der Zeitschrift Sirius analysiert: Starke Infanterie ist notwendig, um die vormarschierenden mechanisierten Kräfte begleiten und schützen zu können. Das gilt vor allem für die schweren Häuserkämpfe in Mariupol, Popasna, Marinka und Bakhmut. Diese Herausforderung versuchen die russischen Streitkräfte durch laufendes Heranführen von mobilisierten Soldaten zu meistern. Gegen die russische defensive Schwäche versucht die ukrainische Seite, den durch die Gegenoffensiven bei Charkiw und Cherson gewonnenen Vorsprung beizubehalten. Russische Truppen bluten also sukzessive aus, ohne dass dieser Abnutzungskrieg für den einzelnen Soldaten Erholung zuließe.

— Militärs meinen, militärische Erfolge berechnen zu können, Wissenschaftler halten von dieser Mathematik des Krieges wenig, wie Thorsten Loch vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam im Spiegel ausführt: «Nach dem Ende von Kriegen hat sich immer wieder gezeigt, wie wichtig der Faktor Mensch und wie hoch die geistige Bereitschaft der Soldaten anzusetzen ist.» Auch in der Ukraine. Obwohl die Ukrainer teilweise fünffach überlegene russische Einheiten angreifen, haben sie Erfolg. Loch: «Die militärische Formel, nach der für die erfolgreiche Rückeroberung von feindlich besetztem Gelände eine Überlegenheit im Feld von drei zu eins, im urbanen Raum sogar von sieben zu eins benötigt wird, hat also nur beschränkte Aussagekraft.»

Unfähige russische Offiziere nützen ukrainischer Gegenoffensive — Der Gleichung fehlt der die Wertschätzung des Individuums, die die russische Militärdoktrin komplett ignoriert, wie auch der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Buch Soldaten des Militärhistorikers Sönke Neitzel zusammenfasst: «Nicht politische Ideologien, sondern Kleingruppenerfahrungen sind entscheidend für die Kampfkraft von Soldaten, ihre Tötungsbereitschaft wie ihre Durchhaltefähigkeit. Neben dem Vertrauen in die Kompetenz der Offiziere ist es vor allem die Erfahrung von Kameradschaft, die eine Truppe zusammenhält und sie auch dann noch weiterkämpfen lässt, wenn die politisch-militärische Lage aussichtslos geworden ist.»

Dazu Christian Göbel, Oberstleutnant der Reserve am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften in Potsdam und Professor für Ethik an der Assumption University in Massachusetts im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt: «In Russland gibt es leider noch immer zum Beispiel die sogenannte «Dedowtschina» («Herrschaft der Großväter»), die bezeichnet die extreme Schikane von jüngeren durch ältere Soldaten; Offiziere misshandeln zudem Untergebene, es gibt das Gewaltregime generell oder Soldatenmisshandlung untereinander; Kadavergehorsam soll eingeprügelt werden.»

Auch ein menschlicherer Umgang miteinander könnte allerdings kaum verschleiern, dass das militärische System strukturell unmenschlich, weil gerade darauf ausgelegt ist, den einzelnen Soldaten sofort durch einen anderen ersetzen zu können –letztendlich so lange, bis noch mindestens einer nach der Schlacht übrig bleibt. Wer das ist, ist unerheblich. Tatsächlich war auch der amerikanische Soldat im Zweiten Weltkrieg zumindest sprachlich wenig wert außer seiner physischen Präsenz. Die gebräuchliche Abkürzung «GI» bildete nämlich lediglich die Kurzform für «Gouvernment Issue» zu Deutsch «Regierungsausgabe», also die Bezeichnung für ein letztlich klitzekleines Rädchen des Machtapparates. Ein Verschleißteil sozusagen.

 
 

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