Spinning Time – Alte Heroen und wenig Etabliertes / So war das Jazzfest Berlin 2023

06.11.2023Der Tagrbb kulturJens Lehmann —   –  Details

Susana Santos Silva

Am Sonntag ist das 60. Berliner Jazzfest zuende gegangen. Zu erleben waren viele alte Heroen, aber auch Neues und wenig Etabliertes. «Spinning Time» lautete das Motto. Jens Lehmann fasst zusammen, was für ihn am diesjährigen Jazzfest wichtig war. — Die Harmonie, den Wohlklang, die hat man sich beim Jazzfest in diesem Jahr bis zum Schluss aufgespart. Im Haus der Berliner Festspiele in der Schaperstraße ist die Sängerin und Gitarristin Joyce Moreno mit ihrer Band zu Gast. Man weiß zwar nicht so genau, warum, aber ein bisschen Bossa Nova mit einer der großen Stimmen Brasiliens kann ja nicht schaden. — Während Moreno noch ihre Hits in den sich leerenden Saal säuselt, geht im Quasimodo in der Kantstraße schon die große Abschiedsparty mit dem Andreas Roysum Ensemble ab. Und auch da traue ich meinen Ohren kaum, als ich die Treppen in den Kellerclub hinuntersteige: Da sind doch tatsächlich klassische Soul-Nummern dabei. — Laut und dissonant — Nach den vergangenen Festivaltagen ist das fast schon eine Gute-Laune-Explosion. Denn von Beginn an pendelte das diesjährige Jazzfest zwischen intellektuell überfordernder, frei improvisierter, geräuschhafter Musik und meditativen, fast schon rituellen Klängen hin und her. — Und zwischen oft enttäuschenden Auftritten großer alter Männer und jugendlichen Kreativexplosionen. «Spinning Time» lautete das Motto diesmal, und das war laut Festival-Chefin Nadin Deventer auch auf die Altersspanne zwischen neunjährigem Knabensopran und 85-jährigem Freejazz-Pianisten gemünzt. — Wunderklänge und Ungenießbares aus der «Riege der Alten» — Henry Threadgill zählt auch schon 79 Lenze, aber Alter schützt vor Langeweile nicht. Die Freejazz-Legende aus Chicago hat sich und der Berliner Großformation Potsa Lotsa XL ein Stück geschrieben, bei dem ich mich ernsthaft frage, wie viele Hörerinnen und Hörer das zum Auftakt der ARD-Jazznacht wohl zu Ende hören wollten. Drei Jahre Vorbereitungszeit, gefühlt ein halber Probentag, Ergebnis: ungenießbar – mein persönlicher Flop des Festivals. — — — «High» mit Ambarchi, Bertling und Werliin in der Gedächtniskirche — Bitchin Bajas können das auch. Sie sind Bestandteil einer Hommage an die Chicagoer Szene, die als Wandelkonzert auf der Seitenbühne in der Schaperstraße daherkommt. «Sonic Dreams» heißt es – und die drei Keyboarder lösen den Titel am besten ein. Das zwitschert und wabert herrlich hypnotisch. — Konzeptkunst, die polarisiert — Mein Top of the Festival ist aber das fantastische Red Desert Orchestra mit seinen westafrikanischen Rhythmen, die die Französin Eve Risser geschickt mit eingängigen Grooves und rauen Bläsersätzen verbindet. Und dazu tanzt die sympathische Französin auch noch ganz versunken am Bühnenrand vor sich hin, bevor sie die nächsten Akkorde in den Flügel poundet. — Beseelter Festival-Abschluss im Quasimodo — Jaja, auch ich erinnere mich zwischendurch an das Jazzfest vor zehn Jahren: Da hießen die Headliner noch Michael Wollny und John Scofield – und ich hab›s geliebt. Aber muss man das neue Jazzfest in der Hauptstadt der Freien Improvisations-Szene deshalb verdammen oder boykottieren? Nein!

 
 

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