18.10.2023 – News – FAZ online – Wolfgang Sandner — – Details
Carla Bley
Sie hatte Einfluss, ohne zu missionieren, und als Anregerin und Ideengeberin des zeitgenössischen Jazz bleibt sie unersetzlich: Zum Tod der Komponistin und Musikerin Carla Bley. — Alles, was sie in den mehr als fünfundsechzig Jahren am Klavier hervorgebracht hat, jeder Klang, den sie in einer Partitur oder auf einem Blatt Papier festhielt, jede Soundskulptur, die sie auslöste, und jedes Head-Arrangement, das sie in andere Köpfe eindringen ließ, war mit einem unmissverständlichen Hinweis versehen: Hier gilt nicht der klingende Ton. Was bei Carla Bley zählte, waren die Untertöne und Zwischentöne, vielleicht auch die gar nicht gespielten, aber eigentlich gemeinten Töne. Die Essenz ihrer Kunst lag im Gestus, was – Bertolt Brecht hat uns das beigebracht – nichts mit Gestikulieren, vielmehr mit einer Haltung zu tun hat. Oft wurde Carla Bley als die größte Komponistin des Jazz bezeichnet. Eine zwiespältige Charakterisierung. Sie war keine Kom ponistin, jedenfalls keine im herkömmlichen Sinn. Sie war nach ihrem eigenen Verständnis nicht einmal eine Pianistin, obwohl sie schon mit vier Jahren am Klavier saß und ein Leben lang nicht davon loskam. — Groß war sie als Anregerin, als Muse, Katalysator, Ideengeber, als Resonanzboden und Verstärker, auch im Verweigern – von Virtuosität, fetischisierter Technik, perfektem Handwerk, Konvention und falschem Pathos. Alleine ihre Anwesenheit wirkte auf viele, oft männliche Musiker stimulierend, manchmal auch einschüchternd und beängstigend. Den Effekt teilte sie mit einem anderen Riesen des Jazz, mit Miles Davis, dessen Musik man nicht verstehen musste, um beim Hören seiner Töne und beim Blick auf seine ganze Erscheinung eine Ahnung davon zu bekommen, welch ein geniales musikalisches Ungeheuer er war. Auch in anderer Hinsicht war sie eine Seelenverwandte des Black Magus an der gestopften Trompete. Sie stand immer im Zentrum oder doch zumindest in der Nähe der aktuellen Jazzentwicklung, hat die Größten um sich geschart. Ihr Name findet sich auf unzähligen Aufnahmen, Projekten, musikalisch-gesellschaftlichen Bewegungen. Sie hatte Einfluss, aber sie war keine Missionarin. Sie war eine Spielerin. Wer für bare Münze nahm, was sie bewegte und wie sie agierte, hatte schon verloren.
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