Latzhosen, Parka und der Winnetou der 80er Jahre / High Energy von Jens Balzer

11.06.2021NewsBerliner ZeitungN.N. —   –  Details

Gründungsparteitag der Grünen

BERLIN-Explodierende Dauerwellen, Pornoschnauzbärte und Schulterpolster – wenn von den 80er-Jahren die Rede ist, verständigt man sich schnell auf eine paar modische Standards als Signatur einer Zeit, die mit gebührendem Abstand als seltsame Geschmacksverirrung daherkommt. Der Pop-Chronist und langjährige Redakteur der Berliner Zeitung Jens Balzer gilt als unerbittlicher Diagnostiker der Zeitläufte, der in seinen Analysen nicht bei Fragen des musikalischen Geschmacks stehenbleibt. Nachdem er die 70er-Jahre als entfesseltes Jahrzehnt beschrieben hat, widmet er sich in seinem neuen Buch jener Zeit, die zwischen Ökologie und Apokalypse auf der Suche war nach neuen, manchmal sehr widersprüchlichen Ausdrucksformen.

Im Januar 1980 findet in Karlsruhe der Gründungsparteitag der Grünen statt. Wie bei den großen Friedens- und Anti-AKW-Demonstrationen der Zeit versammeln sich auch hier viele Menschen, um gemeinsam ihr Dagegensein auszudrücken. Wobei sich das Dagegensein nicht auf die zivile Nutzung der Atomenergie und die nukleare Aufrüstung beschränkt. In der neuen Partei treffen sich politische Strömungen, die in den siebziger Jahren noch getrennt verlaufen sind. Neben den Friedens- und Umweltbewegten finden sich Aktivistinnen aus der Neuen Frauenbewegung, aber auch Dritte-Welt-Initiativen, die gegen den Hunger in unterentwickelten Ländern kämpfen oder dortige Befreiungsbewegungen gegen die kapitalistische Ausbeutung unterstützen. Und schließlich wechseln die letzten noch aktiven Protagonisten aus dem zerfallenden Milieu der K-Gruppen in die Partei. Eine Abspaltung des Kommunistischen Bundes, die Gruppe Z, bemüht sich schon auf dem Gründungsparteitag darum, die generelle politische Orientierung der Grünen nach links zu verschieben. — Die Eröffnungsrede auf dem Karlsruher Parteitag wird von dem konservativen Ökologen und ehemaligen CDU-Abgeordneten Herbert Gruhl gehalten; er trägt bei seinem Auftritt, wie es für Politiker damals üblich ist, Anzug und Schlips. Damit steht er in der Karlsruher Stadthalle beinahe alleine da. Der einzige andere prominente Anzugträger ist der Westberliner Anwalt Otto Schily, der in den siebziger Jahren dadurch bekannt geworden ist, dass er die Mitglieder der RAF im sogenannten Stammheim-Prozess verteidigte. Zu Beginn seiner Zeit bei den Grünen wird er sich vor allem dem Vorhaben widmen, die Angehörigen weltanschaulich eher konservativer Strömungen wieder aus der Partei zu drängen – wie zum Beispiel eben Herbert Gruhl, der die Grünen darum zwei Jahre später verlässt.

 
 

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