Der Mythos vom geilen Berlin war erkauft / Jens Balzer im Interview über die 1990er

28.06.2023NewsBerliner ZeitungStefan Hochgesand —   –  Details

Jens Balzer

Er hat es wieder getan: Mit «No Limit» über die 1990er hat Jens Balzer sein drittes Buch geschrieben, das sich einer Dekade widmet, popkulturell und mentalitätsgeschichtlich. Wir treffen Balzer bei seinem Lieblingsitaliener Delizie D›Italia in der Kollwitzstraße auf Antipasti und Carpaccio, um mit ihm über Berliner Technokeller und die Spice Girls zu sprechen – und warum den 1990ern zu Unrecht so ein unbeschwertes Image anhaftet. — Jens Balzer über sein 1990er-Buch «No Limit»: «Techno war Funktionsmusik» — Als Spiegel der Gesellschaft?

Ja, genau. Die epochale Bedeutung, die Musik für die Hippie-Bewegung hatte! Ich glaube, man tritt niemandem zu nah, wenn man über Techno in den 1990ern sagt: Das war jetzt als Musik an und für sich nicht so wahnsinnig interessant. Es ging darum, dass man sich freie Räume eroberte zu möglichst minimalistischen Beats. Das war Funktionsmusik. Wenn man Gesellschaftsgeschichte im Spiegel der Popkultur erzählen will, dann hat Musik dabei in den 1990er-Jahren einen relativ geringen Anteil. Deshalb habe ich mehr über Tätowierungen, Lifestyle und Fernsehserien geschrieben. Ein anderer Unterschied scheint mir aber noch gewichtiger zu sein: Westdeutschland war in den 1970ern und 80ern popkulturell eng verbunden mit den USA. In den 1990ern wurde dann mit der Wiedervereinigung natürlich sehr viel wichtiger, was in den neuen Bundesländern geschah. — Jens Balzer: «Je mehr Menschen kommunizieren, desto mehr Konflikte gibt es» — Und im Internet?

Im Internet gab es die Idee: Alle können sich mit allen vernetzen, und das gesamte Wissen der Welt steht zur Verfügung. Man dachte, das würde zum Frieden der Menschheit führen: Wenn alle miteinander kommunizieren, können irgendwann alle feststellen, dass sie alle das Gleiche wollen. Mittlerweile wissen wir: Das ist gerade nicht der Fall. Je mehr die Menschen miteinander kommunizieren, desto mehr Konflikte gibt es. Weil die Vorstellungen von Freiheit doch sehr unterschiedlich sind. Fast zeitgleich mit dem Fall der Berliner Mauer beginnt auch die Fatwa gegen Salman Rushdie. — Sie beschreiben die 1990er auch als eine Zeit religiöser Radikalisierung, die in 9/11 mündet. — Die Islamische Revolution im Iran war schon 1979. Aber es ist doch auffällig, dass Religion, die in den 1980ern im Westen fast verschwunden schien, in den 1990ern wieder eine große Rolle spielte. Der zentrale Widerspruch der 1990er ist: Auf der einen Seite haben wir diese radikale Individualisierung und den Höhepunkt dessen, was wir im Westen Postmoderne nannten. Gefühlt alle ließen sich tätowieren, haben im Privatfernsehen über ihren BDSM-Fetisch gesprochen. Man konnte gar nicht extrem genug individuiert sein. Auf der anderen Seite beharrten viele Leute nun wieder auf ihrer kollektiven Identität – sei es metaphysisch, religiös-dogmatisch oder nationalistisch. Etwa als fanatisch politisierter Muslim oder als deutscher Neonazi. Also einerseits die Postmoderne, ein Spiel der Zeichen, das die Menschen befreit. Und andererseits eine Gegenströmung: die Sehnsucht nach den alten Identitäten und Autoritäten.

 
 

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