26.06.2023 – News – Focus Online – Caroline Fetscher — – Details
Caroline Fetscher
Ein Miliz-Milliardär stürmte Richtung Moskau und wieder zurück: Dynamische Akte eines zeitgenössischen Dramas, das beide Seiten entlarvt, seine wie die des Kremls. — Alle Welt reibt sich die Augen, als sei ein Spuk vorbei – oder eine Verheißung. Rund um die Uhr sah es einen Tag lang so aus, als sei die Macht im Kreml ernsthaft herausgefordert, als könne dessen Oberhaupt stürzen und flüchten. Jäh endete dann der Aufstand, den «Putins Koch» Jewgeni Prigoschin, Betreiber der Söldnertruppe Wagner, angezettelt hatte. Nach einem halben Marsch auf Moskau kam das Zurück-marsch-marsch. — Mit der straffreien Entlassung ins Exil fand das Prigoschin-Drama seinen vorerst letzten Akt. Die Dynamik des Dramas trieb Öffentlichkeit und Medien derart vor sich her, dass einige der aus sozialpsychologischer wie politischer Sicht erstaunlichsten Akte erst im Lauf der Zeit stärker in den Vordergrund rücken werden. Der vielleicht erstaunlichste war der kurze Tanz der Lüge mit der Wahrheit. — Sympathien in der Bevölkerung — Im dunklen Stollen des Lügengebirges hat Prigoschin Scheinwerfer aufgestellt, deren Lichtkegel sich auch auf ihn selber richten. Bei der regulären Armee wie in der Bevölkerung hat Prigoschin offenbar viele Sympathisanten, worauf auch der Applaus und die Jubelchöre am Wegrand («Wagner, Wagner!») beim Rückzug der Söldner weisen . — Solche Sympathie erntete er allerdings lange vor dem Benennen der Kreml-Konstrukte, nicht als Entlarver offizieller Lügen, sondern weil der Wagner-Boss als der brachiale, unkonventionelle Kriegsheld galt, der nicht lang fackelt, sondern handelt und Befehle erteilt, der «Koch», der die Suppe der nationalen Emotionen würzt. — Die Sympathiewelle dürfte abebben, nicht zuletzt, je deutlicher Prigoschins Ego-Logik ins Bewusstsein einsickert, und erst recht, nachdem er sich ins offiziell gestattete Exil abgesetzt hat. Daran, dass die Ereignisse vom 24. Juni 2023 das Prestige von Präsident Putin beschädigt haben, besteht kein Zweifel. — Säuberung im stalinistischen Stil? — Soweit hätte er es nie kommen lassen dürfen. Aber mit der Abschiebung des Aufständischen hat die Reparaturarbeit begonnen. In der regulären Armee wird es jetzt eventuell den Versuch der Säuberung im stalinistischen Stil geben, um Kollaborateure der Wagnertruppe auszusortieren. — Um eine wirkmächtige Revolte anzuzetteln ist der Typus Prigoschin offenbar zu erratisch, zu egoitär, zu ungehobelt. Er ist weder gefasst wie ein klassischer Militär noch charismatisch wie ein humanistischer Friedenspreisanwärter. Vielmehr hat er sich vollends als Miliz-Milliardär entlarvt, der sich eine private Armee hält wie einen Fußballclub, den man aufs Spielfeld schickt, um Tantiemen zu kassieren, und der den Club verkauft, wenn das Stadion leerer wird. — Indirekt offenbarte dieser kurze Tanz der Lüge mit der Wahrheit aufs Neue die Erkenntnis, dass und wie Kapitalismus ohne Demokratie und Rechtsstaat nicht viel mehr hervorbringt, als Oligarchenwillkür, Destruktivität und Kleptokratie. Solche Systeme schwemmen Leute wie Prigoschin vorübergehend nach oben – und halten einen wie Putin an der Macht.
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