Jene Armee, die im Februar die Ukraine angriff, existiert nicht mehr – Russlands Verluste im ersten Kriegsjahr in einer Grafik – Datenanalyse

20.06.2023NewsNZZHenry Schlottman — Simon Huwiler, Jonas Oesch, Alex Kräuchi —   –  Details

Russlands Verluste

Die Angaben aus Moskau zu gefallenen Russen im Ukraine-Krieg sind unverlässlich, die Schätzungen des US-Militärs undurchsichtig. Deshalb hat die NZZ mit einem Kriegsexperten ein eigenes Schätzmodell entwickelt. — Henry Schlottman scrollt durch eine Excel-Datei. Er blickt auf Tausende fein säuberlich aufgelistete Zeilen, die den Schrecken des Krieges auf die nackten Zahlen herunterbrechen.

 

— Die russische Armee wurde in einem Jahr praktisch ausgetauscht — Neue, detaillierte Zahlen zeigen, wie viele russische Soldaten im ersten Jahr des Krieges vermutlich verwundet oder getötet wurden. Sie stammen aus einem mathematischen Modell, welches der amerikanische Analyst Henry Schlottman für die NZZ erstellt hat. Es versucht, anhand öffentlich verfügbarer Informationen den russischen Blutzoll – zurückhaltend – zu schätzen. — 109 000 russische Soldaten – mehr als alle 20- und 21-jährigen Männer der Schweiz – sind gemäss Modell im Februar in den Krieg gezogen.

 

— Februar 22: Der russische Feldzug gegen die Ukraine startete bekanntlich desaströs, die Gegenwehr: unerwartet heftig. Nicht alle Soldaten waren bereits am ersten Kriegstag in der Ukraine. Woche für Woche werden weitere Einheiten an die Front beordert. Das Modell schätzt, dass rund 3300 russische Soldaten im Februar – also während fünf Tagen – durch Tod oder Verletzung ausfielen.

 

— März 22: Die ersten Kriegsmonate verlaufen nicht besser. Bereits in der zweiten Märzwoche kommt der russische Vormarsch praktisch zum Erliegen. Weitere Einheiten werden an die Front verlegt. 1351 Soldaten seien getötet, 3825 weitere verwundet worden, sagt Russland. Die Zahlen aus dem Modell zeigen eine andere Realität: knapp 18 000 Verluste seit Kriegsbeginn. — April 22: Ende März gibt Russland den Sturm auf Kiew auf und zieht seine Truppen aus dem Norden der Ukraine ab. Bis diese wieder zum Einsatz kommen, vergehen einige Wochen. Gleichzeitig verlegt Russland weitere Reserven an die Fronten im Osten und im Süden. — Mai bis Juli 22: Es folgen Monate des Stellungskrieges. Die Front ist verhärtet, um kleinste Gebietsgewinne wird heftig gekämpft. Es folgt die Schlacht um Sewerodonezk und Lisitschansk. Auf einem Sicherheitsforum schätzt der CIA-Direktor William Burns, dass bisher 15 000 russische Soldaten getötet und dreimal so viele verwundet wurden, also rund 60 000 Verluste. Das Modell stützt diese Aussage. — August und September 22: Stetig schickt Russland neue Soldaten in den Krieg, konstant scheiden auch Menschen aus. Der Krieg hat sich in ein statisches Kräftezehren verwandelt, und die Informationsdichte nimmt merklich ab. Das wirkt sich auch auf die Genauigkeit des Modells aus. Putin verkündet im September eine Teilmobilmachung. Bis diese Soldaten eintreffen, werden einige Wochen vergehen. Schneller an der Front landen wohl die durch die Privatarmee Wagner in Gefängnissen rekrutierten Straftäter. — Oktober 22: Die Armee, welche am 24. Februar die ukrainische Grenze überschritten hat, existiert nicht mehr. Mittlerweile sind etwa gleich viele Soldaten aus dem Krieg ausgeschieden, wie in den ersten Tagen Richtung Kiew, Charkiw und weitere ukrainische Städte marschiert sind November und Dezember 22: Die Teilmobilmachung zeigt sich in den Daten, der Zufluss an neuen Soldaten vergrössert sich. Kurz vor Weihnachten verkündet der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu, die Streitkräfte nochmals deutlich aufzustocken. 695 000 Zeitsoldaten soll das Heer umfassen. — Januar und Februar 23: Das Ergebnis nach einem Jahr Krieg: eine Pattsituation, um jeden Meter wird gekämpft. Der Blutzoll ist gewaltig. Der russische Angriffskrieg, der mit verhältnismässig wenigen Soldaten begonnen hat, ist zu einer Vernichtungsmaschine geworden. Und die Gegenseite? Dazu existieren kaum verlässliche Angaben. Der Preis, den die Ukraine zahlt, dürfte aber nicht minder hoch sein. — Das Modell schätzt, dass mindestens 153 000 russische Soldaten getötet oder verwundet wurden. Mehr, als ein Jahr zuvor in den Krieg gezogen sind.

 

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