19.06.2023 – News – FAZ online – Friedrich Schmidt und Reinhrad Veser — – Details
Sergej Karaganow
Ein russischer Außenpolitikfachmann fordert den nuklearen Erstschlag auf ein Ziel in Europa. Er behauptet, das sei nötig, um das Überleben der Menschheit zu retten. — Wladimir Putin wählt drastische Worte, wenn er über seine Widersacher spricht. «Jetzt verbrennen wir alles, was sie liefern», sagte Russlands Präsident am vergangenen Freitag auf seinem Petersburger Wirtschaftsforum über die westlichen Waffen für die Ukraine. «Dann schauen wir, was sie als Nächstes machen.» — Ginge es nach Sergej Karaganow, reichten die konventionellen Waffen nicht aus, mit denen Russland bisher versucht, den Krieg zu seinen Gunsten zu wenden. «Die Anwendung von Nuklearwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren», heißt ein Artikel des – wie Putin 70 Jahre alten – Politologen. Darin regt Karaganow einen Nuklearschlag auf einen europäischen Unterstützer Kiews an. — Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist, dass selbst die «Befreiung» der im Herbst annektierten vier ukrainischen Gebiete ein bloßer «Minimalsieg» wäre. Die übrige Ukraine müsse kapitulieren, dort sollten eine entmilitarisierte Pufferzone und ein «freundlicher Staat» entstehen. Dafür müsse man «den Willen des Westens brechen» und diesen zum «strategischen Rückzug oder gar zur Kapitulation» zwingen. — Mancher vermutet, es gehe Karaganow jetzt darum, Putin – dessen Worte er an vielen Stellen paraphrasiert – oder wenigstens Nikolaj Patruschew zu beeinflussen, den Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats, dessen wissenschaftlichem Beirat der Politologe auch angehört. Andere sehen einen neuerlichen Versuch, den Westen einzuschüchtern und von Waffenlieferungen abzubringen, drastischer und konkreter, als Putin selbst es oft unternimmt. Womöglich ist Karaganows Artikel auf der Website von «Russia in Global Affairs» indes bloß wie seine früheren Auftritte ein Gradmesser für das intellektuelle Klima in Russland. — Bemerkenswerte offizielle Reaktionen hat Karaganows Artikel bisher nicht gefunden. Putin bekräftigte am Freitag die Militärdoktrin: Man habe Nuklearwaffen, um Russlands Sicherheit und Staatlichkeit zu sichern. Die Verlegung taktischer russischer Nuklearwaffen nach Belarus bezeichnete Putin als «Element der Abschreckung gegen alle, die darüber nachdenken, uns eine strategische Niederlage beizubringen».
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