02.04.2023 – Gedanken – Ö1 – Peter Blau — – Details
Isolde Charim
Der aus der griechischen Mythologie stammende Narziss, dieser von unstillbarer Selbstverliebtheit gepeinigte und von grenzenloser Selbstbewunderung getriebene Mensch, der mit Vorliebe zwischen Hybris und Vanitas seine Blüten treibt, kommt immer wieder in neuen Gewändern daher: in dem nach Anerkennung heischenden Selfie-Kult, in der zunehmende Selbstverständlichkeit, die eigene Befindlichkeit und die persönlichen Bedürfnisse zum Mittelpunkt und Maß aller Dinge zu machen, in der manipulativen Egozentrik populistischer Politiker oder auch in der ständigen Forderung nach Selbstoptimierung: Du musst mehr werden, als du bist, du musst zu deinem Ideal werden. Was aber bedeutet es für die Gesellschaft, wenn dieses antigesellschaftliche Prinzip zur – gesellschaftlich akzeptierten – herrschenden Ideologie wird?
Die Philosophin und Publizistin Isolde Charim (63) ortet in dieser Entwicklung eine der wesentlichen Ursache für die fortschreitende Spaltung unserer Gesellschaft. Umso mehr stellt sich ihr die Frage, was uns dazu bringt, uns freiwillig den – so auch der Titel ihres aktuellen Buchs – «Qualen des Narzissmus» zu unterwerfen? Wie kommt es, dass «die Menschen für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil», wie es der niederländische Philosoph Spinoza bereits im 17. Jahrhundert formulierte. Diese Frage, so Charim, gelte es zu allen Zeiten neu zu stellen, erst recht jedoch in Zeiten von Krisen und Verunsicherungen. — Im März wurde Isolde Charim mit dem Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet. Die Jury lobte sie in ihrer Urteilsbegründung als «eine präzise Beobachterin und Analytikerin der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem Heimatland Österreich und darüber hinaus. Isolde Charim sucht nicht nach leicht erklärbaren Symptomen gesellschaftlicher und kultureller Phänomene (…), sondern nach deren schwer zu erkennenden Ursachen.»
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