11.02.2023 – News – NZZ – Irina Rastorgujewa — – Details
Irina Rastorgujewa
Die Lage der russischen Emigranten im Westen wird zunehmend schwierig. Sie versuchen sich zu organisieren, sind aber politisch gespalten. Und sie stehen im Visier des Geheimdienstes.
Einmal, als ich noch sehr klein war, versuchte ich, die Zuckerdose auf das oberste Regal eines Küchenschranks zu stellen. Meine Hand war frisch gewaschen und ganz nass. Ich griff nach der schweren Dose, merkte, dass sie mir aus den Fingern glitt und langsam abwärtsrutschte. An dieses Gefühl der Verzweiflung, der Unmöglichkeit, etwas aufzuhalten – die fallende Dose mit Zucker, den man nur mit Lebensmittelkarten kaufen konnte –, erinnere ich mich seit Beginn des Krieges. Ich erinnere mich daran, wenn ich an meine Freunde denke, die ich in einer Heimat zurückgelassen habe, die nicht mehr meine Heimat ist, an mein Kind, das kein Kind mehr ist, an die Insel, auf der ich geboren wurde, die mir verschlossen ist, wer weiss, vielleicht für immer. — Die Gespräche mit den Freunden werden immer kürzer und lakonischer:
Was gibt es Neues? — Ich schreibe.
Wie viel hast du schon geschrieben? — Das Strafgesetzbuch der Russischen Föderation sieht dafür weitere zehn Jahre Gefängnis vor. Und wie geht es dir? — Noch niemand von uns wurde verhaftet. — Wir sind alle von Verzweiflung geplagt – die, die gegangen sind, und die, die geblieben sind. Verzweiflung frisst sich durch uns, macht uns krank, lähmt uns. Der Facebook-Feed ist zu einer Gruppentherapiesitzung geworden. Die Behinderten stützen die Behinderten. In Berlin, wo ich lebe, sieht es kaum rosiger aus. Fast alle, die dem Geschehen in der Ukraine gegenüber nicht gleichgültig sind, blicken mit Schrecken in die Zukunft. Die meisten von ihnen haben nie für Putin gestimmt, haben an Protesten teilgenommen, einige sogar im Gefängnis gesessen, und sie sind es, denen es das Herz zerreisst, wenn die nächsten Bomben auf ukrainische Städte fallen.
SK-