10.11.2022 – News – Berliner Zeitung – Cedric Rehman — – Details
Stanislav Grigorenko
450.000 Haushalte haben in der ukrainischen Hauptstadt keinen Strom. Der Rest der Stadt versinkt stundenweise in Dunkelheit. Wie halten die Kiewer durch? — Die japanische Nudelsuppe wärmt den Bauch. Die kleine Portion in der Asia-Kette China Ma unweit des Kiewer Pivdennyi-Bahnhofs regt den Appetit eher an, sie stillt den Hunger nicht. Kaum ist das Smartphone in der Hand, um den QR-Code für die Speisekarte zu öffnen, wird es dunkel. Nur das Handy spendet bläuliches Licht. Mitarbeiter schneiden auf einer Theke Sushi-Rollen zurecht. Die Küche bleibt jetzt kalt.
— Die Behörden wollen den Blackout verhindern. Sie schalten in Kiew jedem Haushalt vier Stunden pro Tag den Strom ab; es gibt dafür einen Wechselmodus zwischen den Distrikten. Das Netz soll stabil gehalten werden, indem nicht alle Verbraucher gleichzeitig Licht einschalten oder im Internet surfen können. Ob die Rationierung Erfolg haben wird, ist unklar. Der Strom bleibt auch nach dem Ende der geplanten Abschaltungen immer länger weg.
Die wirtschaftlichen Aussichten für die Ukrainer sind düster. Und mit jedem Tag ohne stabile Stromversorgung sieht es schlechter aus für das Land. Der Direktor der Denkfabrik Centre for Economic Strategy (CES), Hlib Vyshlinsky, empfängt in einem alten Bankgebäude. Seine Mitarbeiter tippen am späten Nachmittag ihre Berichte in ihre Rechner. Ein Generator aus den 90er-Jahren fand sich im Keller der Bank. Stromausfälle waren kurz nach 1991, als die Ukraine von der Sowjetunion unabhängig geworden war, keine Seltenheit. «Wir haben Glück», sagt der Direktor.
In ukrainischen Fabriken wird jetzt oft nachts gearbeitet — Weiten Teilen der ukrainischen Wirtschaft wird dagegen gerade der Stecker gezogen. Mitarbeiter arbeiten in Fabriken nun oft nachts, um Aufträge zu erfüllen, berichtet Vyshlinsky. Der Strom sei in den Nachtstunden seltener abgestellt, erklärt der Experte.
— Der produktivste Sektor der ukrainischen Wirtschaft, die IT-Branche, steht vor einer Herausforderung. Ukrainische IT-Spezialisten deckten sich nun mit Generatoren und Powerbanks ein. Doch ein Ausfall des Internets lässt sich mit Notstrom nicht überbrücken. Wie anderswo in Osteuropa ist die Digitalisierung in der Ukraine weit fortgeschritten. Nun geht es nicht mehr nur um die Zerstörung von Fabriken. Die russischen Angriffe entziehen der ukrainischen Wirtschaft Energie und die digitale Grundlage.
— Barbesitzer: «Die Gäste sind hier sicher vor Raketen» — Grigorenko hat seinen Club als Veranstaltungsort nach dem Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar in einem Keller gegründet. Er diente während der Belagerung von Kiew im März als Bunker. Grigorenko scheint es an Zuversicht nicht zu mangeln. «Ohne Strom könnten Musiker immer noch Live-Gigs mit Schlagzeug oder Gitarre spielen und die Gäste sind hier sicher vor Raketen», sagt er. Und der Likör aus Omas Kirschen schmeckt auch bei Kerzenschein.
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