Dirty Dozen – Fremdgänger: 12 Jazzsolisten im Pop – Memories (1982) – Material/Whitney Houston, Archie Shepp

23.08.2011Play Jazz: ClipNDR InfoKarl Lippegaus

Whitney Houston

Dirty Dozen: Material – Memories
von Karl Lippegaus

Die Begeisterung unter den Kritikern war groß, als Anfang der 80er-Jahre ein Trio um den Bassisten Bill Laswell unter dem Projektnamen «Material» eine Serie von EP›s und LP›s mit Leuten aus der Avantgarde-Jazzszene veröffentlichte. Nachdem der Jazzrock mächtig an Fahrt verloren hatte und in die trüben Gewässer der Fusion-Music gesegelt war, hatte niemand erwartet, dass eine junge Band so gekonnt die Energie des Rock mit dem Groove der Turntable-Artisten und den sperrigen Klänge eines Fred Frith oder Henry Threadgill vermischen würde. «Material» war nur der Projektname für eine offene Gruppenkonzeption, in die Bill Laswell einen riesigen Pool von Künstlern einschleuste.

Kollision der Musikstile

1983 landete Laswell mit seinem Stück «Rockit», zu dem Herbie Hancock fünf Minuten improvisiert hatte, einen Welterfolg. Auf Jahre ermöglichte ihm das, Alben mit sehr bekannten Größen und noch mehr Unbekannten zu produzieren: Peter Gabriel, Laurie Anderson, Mick Jagger, John Zorn, Pharoah Sanders, Zakir Hussain, Tony Williams und Ginger Baker.
Das Telefon bei Mr. Laswell stand nicht mehr still. Ein Kritiker nannte Bills Konzept ›collision music›: «Musiker aus völlig verschiedenen, aber sich ergänzenden Sphären zusammentrommeln und sehen, was dabei rauskommt.» Laswell selbst hielt sich alle Türen offen.

Bill Laswell: «Worum es mir geht ist Sound. Ich gebe nicht vor, mich mit Musik zu befassen. Ich arbeite mit Sound-Elementen und Texturen. Im System der Collage bedeutet Komposition, wenn etwas zusammengefügt und ausgeschmückt wird. Du beginnst mit einem Basis-Skelett und dekorierst und konstruierst. Wenn du beschließt, es sei fertig, ist es eine Komposition.»
 

Memories
von der CD One Down - Material, feat. Whitney Houston & Archie Shepp Komponist, Arrangeur und Texter: Hugh Hopper Label: Demon / Mau-Mau – MAUCD 624 2 (1982) sowie Restless Records, ASIN: B000003BIZ oder Celluloid ASIN: B000G73TY6

Musik für die Fußspitze

1982 bastelten der Bassist Laswell und der Keyboarder Michael Beinhorn mit je einem halben Dutzend Percussionisten und Gitarristen an Beats, die selbst einen Neandertaler zum Tanzen gebracht hätten. Wenn das Skelett zu zappeln begann, holte man eine schwarze Sängerin als Raubkatze rein – Nona Hendryx zum Beispiel, bekannt von «Voulez-vous coucher avec moi?» – und ließ sie fauchen und kreischen.
Das neue «Material»-Album «One Down» erschien ein Jahr vor dem großen Coup mit «Rockit» und enthielt eine Ballade – aus der Feder des ex-Roadies und Bassisten der britischen Band Soft Machine mit dem Titel «Memories». Dafür hatte sich Laswell eine besondere Kombination ausgedacht: Whitney Houston sollte singen und Archie Shepp das Tenorsax-Solo beisteuern.

Ein neuer Star

Die erst 18-jährige Sängerin hatte zwar bereits einige kleinere Erfolge erlebt, war aber einer breiten Öffentlichkeit zu der Zeit noch fast gänzlich unbekannt. Ein Jahr nach «Memories» unterschrieb sie einen Plattenvertrag bei Arista, aber erst 1985 erschien ihr erstes Album, das den Start ihrer Weltkarriere markierte und zahlreiche Coverversionen enthielt. Mit 13 Millionen verkaufter Exemplare war es lange Zeit das erfolgreichste Debütalbum, das je eine Sängerin in den USA aufgenommen hatte.
In den 90er-Jahren feierte Whitney Houston ihre größten Triumphe und die Kritiker nannten sie die größte Pop-Soul-Sängerin Amerikas.

Unmögliche Partnerschaft
Bill Laswell scheint Whitneys Potential als einer der ersten erkannt zu haben und die Kombination mit dem rauen, ins Atonale immer wieder abgleitende Tenorsaxofon Archie Shepps war mehr als exotisch. Shepp hatte nach einer Mundoperation eine neue Technik lernen müssen, um überhaupt noch spielen zu können.
Das Resultat ließ den renommierten Rockkritiker Robert Christgau in Verzückung geraten. Er meinte, es sei «eine der köstlichsten Balladen, die man je gehört hat.» Trotz dieser Starbesetzung zog ich immer das Original von «Memories», das Robert Wyatt mehrmals ab Ende der 60er-Jahre aufgenommen hat, bei weitem vor.
Eine bittere Bilanz jener Jahre, in denen Pop und Jazz erneut versuchten, eine unmögliche Partnerschaft einzugehen, zog unlängst der Bassist Miroslav Vitous.
 
Miroslav Vitous:
Fusion hob ab und dann kam Disco rein, was eigentlich alles kaputt gemacht hat, besonders die kreative Musik. Ich habe keinen gehört, der diese Musik weitergebracht hat. Das Problem war, dass der Mann mit dem vielen Geld rein kam und sagte: ›Warte mal. Wir brauchen dich, damit du was spielst, wozu die Leute mit dem Fuß wippen können, damit wir eine Million Alben verkaufen.› Disco war eine Katastrophe für die kreative Musik.

Bill Laswell jedoch blieb bei seinem Konzept und veröffentlicht bis heute eine Menge Musik, die – zugegeben – abenteuerlicher klang als das nette Treffen zwischen Whitney und Archie, das in der Rückschau eher durch seine Einmaligkeit besticht.

Whitney Houstons kometenhafte Karriere begann vor gut 30 Jahren.
Als Saxofonist Archie Shepp «Memories» mit Whitney Houston aufnahm, hatte er bereits mit den meisten Jazz-Größen zusammen gespielt.

 
 

SK-xxhehi