Puccini und die Ausschweifung / Zum 100. Todestag von Giacomo Puccini

27.11.2024Gedanken für den TagÖ1Michael Krassnitzer – Alexandra Mantler

Giacomo Puccini

von Michael Krassnitzer, Publizist, Wissenschaftsjournalist und Experte für Populärkultur, zum 100. Todestag von Giacomo Puccini — Giacomo Puccinis Oper «La Bohème» entführt uns in die Welt von jungen Künstlern im Paris des 19. Jahrhunderts. Man lernt ihre Träume, ihre Hoffnungen kennen, aber auch die ärmlichen Verhältnisse, in denen sie leben. — Ob in dem Schmähbegriff Bobo (das steht für «Bourgeois Bohemien») oder in der Queen-Nummer «Bohemian Rhapsody»: Noch heute ist der Begriff «Bohème» ein Synonym für Künstler, Schriftsteller und Schriftstellerinnen und Intellektuelle, denen eine bestimmte Lebensweise zugeschrieben wird: Sie scheren sich nicht um die Normen der Gesellschaft und führen trotz prekärer finanzieller Verhältnisse ein ausschweifendes Leben. Grenzüberschreitung in jeglicher Hinsicht. — Aber stimmt das überhaupt noch? Ich habe schon gestern meine Beobachtung geteilt, dass sich junge Künstler und Künstlerinnen heute freiwillig einer Fülle von Normen unterwerfen und sich diesen rigoros anpassen. Anstatt Ausschweifung wird die Askese gesucht. Dafür sind es die jüngeren Generationen der Nicht-Intellektuellen und der Nicht-Künstler, die es krachen lassen. Man könnte glauben: Rebellion und Ausschweifung sind heute nicht mehr in Künstlercafés, sondern im Privatfernsehen oder beim Après-Ski-Clubbing anzutreffen. — Aber egal, wo der Esprit der Bohème heute zu Hause sein mag: Puccinis Oper ist deshalb zeitlos, weil die Sehnsucht nach Erfüllung und Freiheit in Teilen der Gesellschaft immer eine Rolle spielen wird. Und zwar vor allem in jenen Teilen, die nicht das Sagen oder nicht die Diskurshoheit innehaben. Wie sagt schon Puccinis Landsmann Dante Alighieri: «Das Menschengeschlecht kann ohne Freiheit nicht glücklich sein.»

 
 

SK-