Maestro oder Primus inter pares? Über das Phänomen des Dirigierens (3|3)

10.10.2024Welt der MusikNDR KulturN.N. —   –  Details

Joana Mallwitz

Es ist die einzige Person auf der Bühne, die keinen Laut von sich gibt – und doch beeinflusst sie den Klang des Ensembles, wie niemand sonst. Wir begeben uns auf die Spuren des geheimnisvollen Berufs des Dirigenten. Im ersten Teil hat Raliza Nikolov auf den Beruf heute geschaut und mit jungen Dirigentinnen und Dirigenten über Freuden und Gefahren gesprochen, über die Voraussetzungen, die man mitbringen sollte. Im zweiten Teil wirft sie heute ein paar Schlaglichter auf die Geschichte des Dirigierens: Wann fing es eigentlich an? Und wie hat sich der Beruf über die Jahrhunderte hinweg entwickelt?

— – Die Anfänge – Vittoria Aleotti! Ja – wann fing es eigentlich an, dass jemand vorn stand und das Ensemble anleitete? Ende des 16. Jahrhunderts findet sich die früheste Erwähnung, dass ein Taktstock verwendet wurde: In Italien, in Ferrara, soll die Nonne und sogenannte «maestra del concerto» Vittoria Raffaella Aleotti das gut 20-köpfige Ensemble mit einem Stab geleitet haben. Dieser Stab soll lang und poliert gewesen sein. Vor allem als herausragende Organistin war Vittoria Aleotti bekannt, auch über Ferrara hinaus, und sie hat auch komponiert. — Eine tragische Geschichte Im 17. Jahrhundert wirkte Jean-Baptiste Lully am Hof des Sonnenkönigs Louis XIV., seines Freundes aus Kindertagen – bis eine Intrige Lully um die Gunst des Königs brachte. Für die Aufführungen verwendete Lully einen langen, schweren Stab mit Verzierungen. Mit diesem Stab stampfte er den Takt – bis er sich, 1687, wütend, weil der König nicht erschienen war, den Stab in den Fuß rammte. Dieser Unfall hatte tragische Konsequenzen, denn Lully weigerte sich, den entzündeten Zeh amputieren zu lassen, er starb an den Folgen der Infektion. Seine Geschichte aber hat diese Form der musikalischen Leitung weit über die Grenzen der klassischen Musik bekannt gemacht. — Johann Mattheson – ein humorvoller Chronist seiner Zeit Ein sehr wichtiges Dokument hat Johann Mattheson verfasst, der Hamburger Komponist und Musikschriftsteller, der 1681 in Hamburg geboren wurde. In seiner umfassenden Schrift «Der Vollkommene Capellmeister» von 1739 über die Weiterentwicklung der Tätigkeit des Kapellmeisters beweist er zwischen den Zeilen immer wieder einen besonderen Humor, wenn er zum Beispiel seine klare Haltung formuliert zu «dem unnützen Geprügel, Getöse und Gehämmer mit Stöcken, Schlüsseln und Füßen» – als würde er sich direkt gegen Lully wenden. — Die ersten, die den modernen Taktstock verwendeten Je komplexer die Werke, desto wichtiger wurde es, die Aufgaben zu trennen, nicht mehr gleichzeitig zu spielen und zu leiten. Von Taktstöcken in Form von langen Stäben, die gern auch mal Radau machten, war schon die Rede. Bis zur Romantik dienten diese Stäbe in erster Linie dazu, das Ensemble beisammen zu halten, dafür wurden auch Papierrollen verwendet – und die Kapellmeister waren nicht im heutigen Sinn Dirigenten. Das bedeutet, es gab keine Ausbildung zum Dirigenten, es gab nicht diese Berufsbezeichnung, alle, die es taten, dirigierten eigentlich nebenbei, zu ihren vielfältigen anderen Tätigkeiten. — Mit der Zeit aber wurden aus Ensembles Orchester, die vielschichtigere Kompositionen aufzuführen hatten, so wurde es notwendig, nicht nur den Takt zu schlagen, sondern auch die Komplexität zu organisieren. Zu den ersten, die den modernen Taktstock verwendeten, um auch für weiter entfernt sitzende Musiker sichtbar zu sein, gehörten Carl Maria von Weber, Louis Spohr und Felix Mendelssohn Bartholdy. — Hans von Bülow – Beispiel des «Orchestererziehers» Hans von Bülow hat noch den dirigierenden Felix Mendelssohn Bartholdy erlebt und war Schüler von Clara Schumann und Franz Liszt, lernte in Hannover Joseph Joachim und Johannes Brahms kennen. Der Musikessayist Adolf Weissmann hat es 1925 so ausgedrückt: «Durch ihn werden wir an die Schwelle der neuen Zeit geführt. Der Weg vom Taktschläger über den Kapellmeister zum Dirigenten mündet in diese Persönlichkeit. Bülow schafft so recht eigentlich den Berufsdirigenten als Lenker und Mittelpunkt des Konzerts.» — Rafael Kubelik und das Ideal der Einheit von Dirigent und Orchester Und wo bleibt der Maestro, der Pultgott? Rafael Kubelik, einer der virtuosesten Dirigenten Mitte des 20. Jahrhunderts, hat sich immer sehr auf seinen Vater bezogen, den großen Geiger Jan Kubelik: «Mein Vater hat immer geglaubt, dass ein Künstler ein Missionar sein soll, der nicht für sich spielt, sondern für die anderen. Und diese Mission ist auch Mission des Dirigenten. Durch die Zusammenarbeit der beiden Elemente, des Egos des Dirigenten und der 100 Egos des Kollektiven eine Einheit zu bilden, das ist die große Aufgabe.»

 
 

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