Nord Stream: Ist das Rätsel um den Ostseeanschlag gelöst?

14.08.2024NewsZeit OnlineLuisa Hommerich, Holger Stark und Fritz Zimmermann —   –  Details

Wladimir S. / Beschuldigter

Deutsche Ermittler haben offenbar einen Taucher identifiziert, der Nord Stream gesprengt haben soll. Doch der Hauptverdächtige ist bis heute nicht zu greifen. — Der Tauchlehrer Wladimir S. gilt als Hauptverdächtiger. — Das Haus von Wladimir S. liegt in einer ruhigen Wohngegend in Pruszków, einer Vorstadt südwestlich von Warschau. An einem Nachmittag Ende Juli sind die Fenster des Hauses auf Kipp geöffnet, in der Auffahrt steht ein schwarzer Ford Transit mit ukrainischem Kennzeichen. Von der Straße aus kann man in den Garten sehen. Ein Jugendlicher liegt dort in einer Hängematte, kurz darauf erscheint ein Mann. Er trägt ein helles T-Shirt, kurze Hose, dunkle Haare. Er steht mit dem Rücken zur Straße, sein Gesicht ist nicht erkennbar. Ist das Wladimir S., der Hausherr? «Nichts deutet an diesem Nachmittag darauf hin, dass gegen Wladimir S. ein Haftbefehl eines Ermittlungsrichters am Bundesgerichtshof vorliegt. Dass die Bundesregierung den Haftbefehl nach Polen übermittelt hat und sich auf höchster Ebene mit der polnischen Regierung über sein Schicksal austauscht. Und dass Wladimir S. bis heute nicht zu greifen ist. «Der Ukrainer Wladimir S. soll an jenem Anschlag beteiligt gewesen sein, der nicht nur den Ostseeboden erschütterte, sondern auch die Weltpolitik: die Sprengung der Nord-Stream-Röhren Ende September 2022. S. gilt nach Recherchen von ZEIT, Süddeutscher Zeitung und der ARD als Hauptverdächtiger im Ermittlungsverfahren, das der Generalbundesanwalt wegen des Verdachts der verfassungsfeindlichen Sabotage führt. Die Bundesanwaltschaft wollte sich auf Anfrage nicht äußern. S. selbst streitet eine Beteiligung ab.

 

Die Taucher kamen aus der Ukraine — Seit dem Anschlag vor knapp zwei Jahren wurde weltweit ebenso lustvoll wie wild spekuliert, wer dahinterstecken könnte. War es die CIA, wie der einstige US-amerikanische Starjournalist Seymour Hersh behauptet? Waren es die Russen mit kleinen U-Booten, von Militärschiffen aus in die Tiefe geschickt? Oder war es ein ukrainisches Kommando mit einer Segeljacht, wie die ZEIT gemeinsam mit dem ARD-Hauptstadtstudio, dem SWR und dem Magazin Kontraste im März vergangenen Jahres erstmals berichtet hatte? Das Rätsel um die Sprengung der Pipelines, es könnte jetzt zumindest in Teilen gelöst sein. Die Taucher, davon sind die Ermittler überzeugt, kamen aus der Ukraine. Nur: Der Hauptverdächtige ist bis heute nicht festgenommen. Womöglich ist er entwischt.

Es war im Juni, als die Bundesregierung ihren Haftbefehl nach Polen übermittelte. Darin schilderten die Deutschen ihre Erkenntnisse zu Wladimir S., den die Ermittler anhand von Fotos und Zeugenaussagen identifizieren konnten. Demnach saß S. in einem weißen Citroën, der in der Nacht des 8. September 2022 bei Rügen geblitzt wurde und offenbar die Besatzung zur Jacht brachte. Das Blitzerfoto soll einen Mann zeigen, der S. sein könnte. Erhärtet wird der Verdacht durch Aussagen von Zeugen, die beschreiben, wie ein privater Fahrdienst eine Gruppe Ukrainer über Polen nach Deutschland chauffierte; auf einer Lichtbildvorlage soll S. als Mitfahrer erkannt worden sein. Die Indizien reichten für einen Haftbefehl. «— Über Wochen tat sich die neu gewählte polnische Regierung offenbar schwer mit einer Entscheidung. Denn in Polen galt der Bau der Nord-Stream-Pipelines als Sünde, ein mutmaßlicher Saboteur wie Wladimir S. wäre aus dieser Perspektive ein Held, ähnlich haben sich polnische Politiker hinter vorgehaltener Hand immer wieder geäußert. Die deutsche Bundesregierung war bis zuletzt unsicher, wie die Polen mit dem Haftbefehl umgehen würden. Konnte man einen «Helden» wie ihn wirklich ausliefern? Oder würde Wladimir S. einfach irgendwann verschwinden? S. sagt am Telefon, von dem Verdacht gegen ihn höre er «zum ersten Mal». Ob er an dem Anschlag beteiligt war? «Nein.» Dann wird das Telefonat beendet. «Anfang September 2022 war eine Segeljacht vom Rostocker Hafen Hohe Düne aus in See gestochen, eine Bavaria Cruiser 50. An Bord der Andromeda befand sich den Ermittlungen zufolge das Kommando, das die Pipelines zerstören sollte. Es soll aus sechs Personen bestanden haben, fünf Männern und einer Frau. Unter ihnen, so der Verdacht, offenbar Wladimir S.

 

Nach Stopps auf Rügen, auf Bornholm und Christiansø in Dänemark, im schwedischen Sandhamn und im polnischen Ko obrzeg kehrte das Boot wieder nach Rostock zurück. Irgendwann während des Törns tauchte die Besatzung nach Überzeugung der Ermittler von Bord der Jacht hinunter bis auf den Meeresgrund und befestigte in der Dunkelheit der Ostsee die Sprengsätze bei den Röhren der Pipelines – in rund 80 Meter Tiefe. An Bord der Andromeda fanden die Ermittler später Rückstände des Sprengstoffs HMX, auch bekannt als Oktogen.

 

Eine Vielzahl von Spuren — Am 26. September 2022 explodierten die Sprengsätze und zerstörten drei der vier Röhren von Nord Stream 1 und Nord Stream 2. Seither ermittelten Behörden in mehreren Ländern. Nirgendwo aber waren die Ermittler so beharrlich wie in Deutschland. Während die Untersuchungen in Dänemark und Schweden Anfang dieses Jahres ohne nennenswerte Ergebnisse eingestellt wurden, fuhren die Beamten in Deutschland mit ihren Ermittlungen fort – unbeeindruckt von den Spekulationen und von der Berichterstattung. Und von der politischen Dimension des Verfahrens. «Denn der Anschlag war von Beginn an nicht einfach nur ein krimineller Akt. Die Bedeutung der Pipelines machte die Ermittlungen hochpolitisch. Was würde geschehen, wenn tatsächlich Ukrainer hinter dem Anschlag steckten? Müsste der Botschafter einbestellt werden? Würden die Waffenlieferungen gestoppt? Wie würde man umgehen mit einem Land, das die Infrastruktur zerstört hat, über die sich Deutschland maßgeblich mit Gas versorgen wollte? Diese Fragen stellen sich nun, nach Bekanntwerden des Haftbefehls gegen einen ukrainischen Staatsbürger, mehr denn je. «Denn im Zuge der Ermittlungen stießen die Fahnder auf eine Vielzahl von Spuren: DNA-Reste an Bord der Andromeda etwa. Oder das Blitzerfoto auf Rügen, das ein ukrainisches Auto zeigt, jenen privaten Fahrservice, der offenbar Teile des Kommandos aus der Ukraine nach Deutschland zur Andromeda gebracht hatte. Oder Beschreibungen der Crew von mehreren Seglern, die dem Schiff im September 2022 im Hafen zufällig begegnet waren. Eine Liste von mutmaßlich gefälschten Namen, die der polnische Grenzschutz bei einer Kontrolle der Jacht in Polen notiert hatte. Schließlich mehrere Millionen Log-in-Daten von Handys, die im September 2022 an der Ostseeküste eingeloggt waren. — Irgendwann im Laufe des Verfahrens begannen die Ermittler, sich für ukrainische Profitaucher zu interessieren. Sie stießen auf die Tauchschule Scuba Family aus Kiew – und damit auf drei Ukrainer: Es handelte sich um die Betreiber der Tauchschule, Ewgen U. und seine Frau Switlana. Sowie ihren Freund Wladimir S., der als Tauchlehrer für sie arbeitete und der heute im polnischen Pruszków lebt. Ihre Namen wurden zudem durch einen nachrichtendienstlichen Hinweis bestätigt. Sie passten zu einzelnen Spuren aus dem Tatzeitraum. Der Rest war akribische Kriminalistik.

 
 

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