Kampf um die Erinnerung: Vor 80 Jahren begann der Warschauer Aufstand – polnische Veteranen und Historiker blicken zurück

01.08.2024NewsNZZKarolina Benedyk —   –  Details

Wanda Traczyk-Stawska

Am 1. August jährt sich der Tag des Beginns des Warschauer Aufstands zum 80. Mal. So umkämpft das Gedenken in Polen ist, so feierlich erinnern Polen auch an den Widerstand. Im Nachbarland Deutschland sieht es anders aus. «Die Veteranin Wanda Traczyk-Stawska vor dem Denkmal der Opfer des Warschauer Aufstands am 1. August 2022.

Leszek Zukowski steht am Krasinski-Platz in der Nähe eines Kanaleingangs. Die Reste seiner Einheit sollen aus der umkämpften Altstadt Warschaus durch die Abwasserkanäle fliehen. Die Stadtmitte wird noch von der polnischen Untergrundarmee Armia Krajowa (AK) gegen die Deutschen gehalten. Es ist der 1. September 1944. Seit Beginn des Warschauer Aufstands ist ein Monat vergangen. Um Zukowski herum liegt alles in Trümmern. Die Deutschen haben hart zurückgeschlagen, seit vor einem Monat polnische Partisanen den Kampf um die polnische Hauptstadt mit den Besetzern aufgenommen haben. «Bevor der 15-Jährige in den Kanal steigen kann, befiehlt der Kommandeur, dass einige bleiben und die Stellung halten sollten. «Du, du und du.» Er zeigt auch auf Zukowski. Einen Tag danach verhaften ihn die Deutschen. Zuvor kann er noch einen Teil seiner Uniform und seine rot-weisse Armbinde verstecken. Er gibt sich als einfacher Warschauer Junge aus. Dabei ist er eigentlich ein Kämpfer, der mit anderen polnischen Partisanen den Deutschen in den vergangenen vier Wochen schwer zugesetzt hat. «80 Jahre später steht Zukowski auf dem Balkon seines Wohnzimmers: «Hier an der Kirche des heiligen Wojciech in Wola wurden die Gefangenen sortiert. Am 7. September landete ich im Konzentrationslager Flossenbürg.» Ende April 1945 ging es weiter, ein Todesmarsch. Er überlebte und gelangte nach Dachau. «Als die Amerikaner uns am 29. April befreiten, wog ich noch 29 Kilogramm und hatte Typhus.» «An den Kampf Zukowskis erinnert das Land mit einer Schweigeminute um 17 Uhr am 1. August, dem Moment, als vor acht Jahrzehnten der Aufstand losbrach. In ganz Polen werden dann die Menschen innehalten. «Blutige Tragödie — Im Sommer 1944 ist Polen seit fast fünf Jahren von den Deutschen besetzt. Von London aus regiert eine Exilregierung über einen Staat, den die Polen im Untergrund aufgebaut haben. Sein Kern ist die Armia Krajowa, die grösste militärische Widerstandsorganisation in Europa mit mehr als 350 000 Kämpferinnen und Kämpfern. Die Befreiung Warschaus von den Deutschen soll ihr grösster militärischer Erfolg werden. Doch das Unterfangen scheitert – und die Besetzer schlagen brutal zurück. 18 000 polnische Soldaten fallen. Zehnmal so viele Warschauer Zivilisten werden von den Deutschen ermordet. «Das Gedenken an die blutige Tragödie ist seit Jahrzehnten eine nationale Angelegenheit. Allein in Wola exekutieren die Deutschen innerhalb von drei Tagen 40 000 Kämpfer und Zivilisten. An ähnliche Massaker in der Stadt erinnern überall Gedenktafeln. Das Museum des Warschauer Aufstands liegt im Zentrum. Es erscheinen historische Dokumentationen und Spielfilme, dieses Jahr sogar ein Computerspiel: «63 Days», so lange währte der Widerstand der Warschauer. «Den Deutschen dagegen ist das Ereignis sozusagen unbekannt. Die Nachbarn, heute EU-Partner und Nato-Waffenbrüder der Polen, täten sich schwer mit der Erinnerung, sagt der Historiker Stephan Lehnstaedt. So verwechseln etwa immer wieder Medien, aber auch Politiker, das Aufbegehren der Hauptstadt mit dem verzweifelten Aufstand im Warschauer Ghetto ein Jahr zuvor. «Doch auch in Polen ist die Erinnerung bis heute umkämpft. Lange durften die Ereignisse nicht aufgearbeitet werden. Nach dem Krieg gelangten die Kommunisten an die Macht, die den Kampf als Aufstand des konservativ-bürgerlichen Polen ablehnten. — Die Veteranin Wanda Traczyk-Stawska vor dem Denkmal der Opfer des Warschauer Aufstands am 1. August 2022.

 
 

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