07.07.2024 – News – ZEIT Online – Johannes Schneider — – Details
Das Gemeinsame
War das nun ein neues Sommermärchen? Die Weltmeister-der-Herzen-Haftigkeit des Ausscheidens der Deutschen legt den Verdacht nahe. Doch auch im Fußball wachsen die Ränder. «Das Gemeinsame, und sei es gemeinsames Entsetzen, kam bei der Europameisterschaft im eigenen Land im Vergleich zu vorangegangenen Turnieren etwas zu kurz.
Manchmal erkennt man erst auf den zweiten Blick, wie stabil Menschen sind. Beispiel Julian Nagelsmann: Ist dieser Mann, der nun unter Tränen eine positive Gemeinschaft auch über den Fußball hinaus beschwört und gegen das rückwärtsgewandte deutsche Gemotze redet wie ein besserer Bundespräsident, noch derselbe wie vor wenigen Wochen und Monaten? Immerhin wollte Nagelsmann bei seinem Amtsantritt, wie er damals dem Spiegel erzählte, Fußball und Politik doch strikt trennen. Und dann beschwerte er sich kurz vor Beginn der Fußball-EM der Männer noch über «Scheißumfragen» zum Thema Fußball und Rassismus, als brächten die nur unnötig Unruhe in alles und nicht traurige, aber wichtige Erkenntnisse.
— Heute muss man sagen: Nein, Nagelsmann hat nur ein anderes, nämlich sportliches Verständnis der Politik im Fußball. Schon dem Spiegel sagte er damals, mit Blick auf die zu dieser Zeit noch diskutierten Respect-Armbinden und Mund-zu-Gesten aus Katar: «Wenn wir eine gute EM spielen, und hinterher melden sich 15 Prozent mehr Kinder bei Vereinen an, haben wir gesellschaftlich mehr erreicht als mit einer Geste vor einem Spiel.» Und genau so hat er es kommen lassen. Guter Mann, gute Sache – und alles an der exakt richtigen Stelle, ohne irgendwelchen aufgesetzt wirkenden Selbstvermarktungstinnef.
— Das Ansehen des DFB hat Nagelsmann quasi im Alleingang saniert, mit einem Mut zur Mannschaft, der auch jedes frühere Oliver-Bierhoff-Gerede über «Die MannschaftTM» als vermarktbares Token weit überstrahlt, gar gnädig vergessen lässt. Die bestimmt vielen Kinder, die am Freitagabend weinend und fassungslos wütend vor dem Fernseher saßen, überwältigt von einer tief empfundenen grausamen Ungerechtigkeit, werden diese Typen nicht vergessen. Robert Andrich und Antonio Rüdiger werden sich in viele Biografien einschreiben als Archetypen, wie einst Beckenbauer und Schwarzenbeck, wie Andi Brehme und Lothar Matthäus, um hier ganz bewusst nur Weltmeister zu nennen. Denn das ist die emotionale Augenhöhe.
— Die deutsche Reise bei der EM war in einer Zeit, die sich so sehr nach guten Geschichten jenseits der allgemeinen Schwere sehnt, eine nahezu perfekte Geschichte. Sie war vielleicht kein volkstümliches Sommermärchen, das schreibt sich tatsächlich nicht unter diesem Erwartungsdruck. Es war aber eine wunderbare Sommernovelle. Nicht übertrieben lang leider, das ist nun die literarische Eigenheit der Novelle; aber mitreißend und wendungsreich.
SK-news