Brief an Tito

25.06.2024NewsZEIT OnlineNermina Kuki —   –  Details

Nermina Kukic

Als Kind musste sie einen Eid schwören auf den Genossen Tito. Heute hat unsere Autorin eine Reihe von Fragen an den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten. — Genosse Marschall, lieber verehrter drug Tito! — Ich schreibe Dir, weil ich mal einen Eid geschworen habe. — Auf Dich. Erinnerst Du Dich? Nein, natürlich hast Du mich persönlich nicht gekannt, wir waren ja viel zu viele kleine Pionierinnen und Pioniere, und wie Du weißt, waren viele von uns ins westliche Ausland gegangen mit ihren Eltern. Nicht — aus politischen Gründen», wie viele von denen heute sagen, um ihre persönliche Geschichte aufzuwerten, sondern um Geld zu verdienen. Du hast uns vertraut, Du wusstest, wir würden Dich nicht verraten. — Wir ließen ja alle Familie zurück, manche sogar ihre Kinder. Wie die sowjetischen Sportler oder Katarina Witt, die Eisprinzessin aus der DDR, deren Eltern nie mitreisen durften zu den westlichen Sportereignissen und den Olympiaden, damit sie immer brav zurückkamen, so ließen auch die sogenannten Gastarbeiter ihre Familien zurück. Das war nicht nur ein Schutz gegen Verrat am Sozialismus, es war auch gut für den Rückfluss von Devisen in die Ökonomie unseres schönen Heimatlandes, in unser, Dein Jugoslawien. — Du warst so klug, Genosse! Mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland hast Du nicht nur so was Tolles wie die Anwerbung jugoslawischer Arbeiter und Arbeiterinnen ausbaldowert, sondern auch für ihre Kinder etwas, das sich — muttersprachlicher Ergänzungsunterricht» nannte. Da sind wir Gastarbeiterkinder einmal die Woche hingegangen, wie in eine Warteschleife angesichts der dräuenden Rückkehr. Sie sagten uns, dass wir nur Gäste seien, die irgendwann nach Hause zurückgehen würden (mussten?), und dann wäre es ja blöd, wenn wir in der jugoslawischen Schule nicht mehr die Sprache richtig sprächen oder nicht mehr kyrillisch lesen und schreiben könnten. Und genauso blöd wäre es, die Flüsse, Seen und Berge der Heimat nicht aufzählen zu können, die sozialistischen Feiertage nicht zu kennen und überhaupt nicht zu wissen, wer man eigentlich sei: eine kleine Pionierin, die ihren Eid auf Dich, den Genossen Tito, auf Brüderlichkeit und Einigkeit und auf die sozialistische Republik Jugoslawien geleistet hatte: — Druze Tito, mi ti se kunemo / da sa tvoga puta ne skrenemo!» («Genosse Tito, wir geloben, von Deinem Weg nicht abzuweichen!») —

 
 

SK-news