Jazzfest Berlin 2023: Ein Probenbesuch bei dem Komponisten Henry Threadgill

01.11.2023NewsTagesspiegelGregor Dotzauer —   –  Details

Probenbesuch Threadgill

«Simply Existing Surface», das ehrgeizigste Projekt des diesjährigen Festivals, ist ein Auftragswerk für seine Band Zooid und Silke Eberhards Potsa Lotsa XL. Es führt tief in den eigenwilligen Klangkosmos des 79-jährigen Multisinstrumentalisten. — Im großen musikalischen Karneval der Tiere sind Zooide kaum vertreten. Stockstumm und sesshaft, wie sie sind, lässt sich weder ihr Ruf noch ihre Fortbewegungsart imitieren. Auch taugen die zumeist marin, in Kolonien lebenden Wesen nicht auf Anhieb als Sympathieträger. — Ob sie wie die Kelchwürmer oder die Catenuliden Plattwürmer miteinander verwachsen sind, wie die Flügelkiemer und Moostierchen in einer Wohnröhre zusammenleben oder wie beim Manteltier gar in einer extrazellulären Matrix, der Tunica, siedeln: Der Superorganismus, den sie bilden, ist ein Wunder, das sich erst intellektuell erschließt, und es hat den Altsaxofonisten und Flötisten Henry Threadgill mit seinem Quintett Zooid gebraucht, um ihnen zumindest metaphorisch einen Platz in der Musik zu verschaffen. — Dabei ist das modulare Denken, das die Kompositionen seiner letzten Jahre prägt, in dem Grenzgebiet von Neuer Musik und Jazz, das er seit seiner Chicagoer Zeit in den Kreisen der Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) an der Seite von Muhal Richard Abrams, Roscoe Mitchell oder Anthony Braxton kennengelernt hat, nichts Ungewöhnliches. Er hat es über die Jahrzehnte seines nunmehr 79-jährigen Lebens nur zu einer Sprache geführt, die das Beste aus beiden Welten in einem reich kolorierten Idiom zusammenführt: Das Unpersönliche der klangerzeugenden Verfahren und das Persönliche, das diese in den improvisierten Passagen durch die Solisten gewinnen, schaffen eine fruchtbare Spannung von Struktur und Ausdruck.

 
 

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