29.10.2023 – Essay und Diskurs – Deutschlandfunk – Daniel Schreiber — – Details
Daniel Schreiber
Lange galt das «ich» in Texten als verdächtig. Im vergangenen Jahrzehnt aber haben wir einen grundlegenden Wandel in unseren Erzählformen erlebt. Egal, ob in der Literatur oder im Journalismus: Alle erzählen vom Ich.
Die Erzählperspektive des «ich» läuft der auktorialen Tradition großer realistischer Romane entgegen. Diese lieferten gern mit allwissenden Rundumschlägen kleine Welterklärungsmodelle und verkörperten mehrere Generationen lang für viele Menschen die Grundidee von Literatur. Das erzählte «ich» läuft der Haltung der Objektivität zuwider, mit der uns nüchtern und manchmal etwas staatstragend die Entwicklungen in Politik, Kultur und Gesellschaft journalistisch auseinandergesetzt wurden. Wo früher Perspektiven vorherrschten, die sich als objektiv inszenierten, und es manchmal sogar verpönt war, «ich» zu sagen, ist eine deutliche Subjektivierung zu erleben. Persönliche Essays und Autofiktion, lange nahezu bedeutungslos, sind zu Größen auf dem Literaturmarkt und im Literaturbetrieb geworden. Und selbst in journalistischen Texten gehört es heute zum guten Ton, beherzt «ich» zu sagen. Was hat diese Entwicklung ausgelöst? Was verspricht sie uns? Und hat sie nicht auch negative Seiten? Daniel Schreiber über den Verlust unserer großen Erzählungen, das Ich und das Wir und die Erzählung des Lebens im Kleinen.
Daniel Schreiber, 1977 geboren, ist Autor der Susan-Sontag-Biografie «Geist und Glamour» (2007) und der beiden persönlichen Essaybände «Nüchtern. Über das Trinken und das Glück» (2014) und «Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen» (2017). Er lebt in Berlin und arbeitet als freier Autor, u.a. für ZEIT Online. 2021 erschien sein Bestseller «Allein».
(Wdh. v. 26.3.2023)
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