Feindbild Foucault / Debatte um Identitätspolitik

19.09.2023NewsZeit OnlinePhilipp Sarasin —   –  Details

Michel Foucault

Der Philosoph Michel Foucault gilt heute als Vordenker eines «woken» Stammesdenkens. Doch viele Kritiker scheinen sich mit dessen Werk kaum beschäftigt zu haben. — Der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault ist heute einer der meistzitierten Intellektuellen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kein Wunder, dass die Rezeption seines Denkens in fast allen wissenschaftlichen Disziplinen, im politischen Aktivismus, in der Kunst und bis hin zur Lebensberatung längst nicht mehr zu überblicken ist. Zu dieser Rezeption gehören neben kritischer Gelehrsamkeit und undogmatischem Weiterdenken auch naives Zitieren, stures Nicht-verstehen-Wollen und dummes Postmoderne-Bashing. — Das kommt und geht in Wellen, und gegenwärtig scheint mit dem Erscheinen des kontroversen Buches Links ≠ woke der Philosophin Susan Neiman gerade wieder ein Wellenkamm erreicht. Für Neiman ist Foucault der «Pate der woken Linken». Dabei sei seine Botschaft reaktionär und eigentlich nur mit jener des Nazi-Juristen Carl Schmitt zu vergleichen. Denn er verwische beständig die Grenze zwischen Deskriptivem und Normativem. Er sei ein «Zyniker» und «Nihilist», ja ein «amoralischer Mensch», wie sie den Linguisten Noam Chomsky zustimmend zitiert; er verachte den Unterschied zwischen Gut und Böse, die Aufklärung und die Idee des Fortschritts. Und weil er den Universalismus der Aufklärung ablehne, habe er entscheidend zum «Stammesdenken» – das heißt zur Identitätspolitik – beigetragen. Tatsächlich: Stellt man Foucault so dar, kann er entweder nicht «links» gewesen sein – oder die Linke, die sich auf ihn bezieht, ist eben «woke» und daher keine wirkliche Linke mehr. Foucault jedenfalls, der den Begriff der Postmoderne für sich ablehnte und auf der Aufklärung als einer «Haltung» bestand, hätte sich gewundert, was ihm heute alles zugeschrieben wird. — Michel Foucault (Mitte) und Jean-Paul Sartre (links) auf einer Pariser Demonstration gegen Rassismus im November 1971.

 
 

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