Michael Frayn wird Neunzig / Und wenn die Welt ein einziger Schein wäre

08.09.2023NewsFAZ OnlineGina Thomas —   –  Details

Michael Frayn

Aus Sepiafotografien vom Wien um 1900 bricht zu den Klängen von Mahlers erster Sinfonie ein Fiaker aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Darin lässt sich Michael Frayn im Jahr 1977 an den historisierenden Fassaden der Ringstraße entlangkutschieren. In seinem brillanten Fernsehporträt der Hauptstadt von „Kakanien“ erläutert er, wie die steinerne Kulisse gleich der Front einer Bank Solidität und Vertrauen demonstrieren sollte, obwohl jeder damals, als das Ensemble in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts errichtet wurde, bereits gewusst habe, dass die Bank auf den Konkurs zusteuerte. — An der Universität vorbeifahrend, weist Frayn auf den ehedem dort lehrenden Physiker und Philosophen Ernst Mach hin, der die Wirklichkeit als ein Konstrukt menschlicher Wahrnehmungen und Empfindungen definierte. Diesen Gedanken greift Frayn etwas später im Schloss Belvedere wieder auf, wenn er vor den von Tod und Untergang gezeichneten Bildern Egon Schieles steht und bemerkt, dass die Besucher ihnen Leben einhauchten, indem sie sie betrachteten. Im Park fragt sich Frayn, was die Sphingen wohl denken mögen, die wirkten, als hielten sie die fragile Struktur des Scheins aufrecht, indem sie sie wahr nähmen – oder sich zumindest den Anschein gäben, sie wahrzunehmen. Wenn die Welt aus Schein bestehe, folgert Frayn, dann sei vielleicht so zu erscheinen, als denke man darüber nach, das Äußerste, was man leisten könne.

 
 

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