Es ist an den Menschen, weiterzuschreiben

31.07.2023NewsFAZ onlineTilman Spreckelsen —   –  Details

Cees Nooteboom

Sein Welterfolg ist «Die folgende Geschichte», seine Passion ist das Spiel mit der Zeit: Dem reisenden Erzähler Cees Nooteboom zum 90. Geburtstag. — Ein Mann schläft in Amsterdam ein und wacht in Lissabon auf – so beginnt eine der berühmtesten Novellen der letzten Jahrzehnte. Cees Nootebooms «Die folgende Geschichte» schildert aus mehreren Perspektiven ein Liebes-Quartett zwischen einem Lehrer-Ehepaar, einer Schülerin und einem weiteren Lehrer, dem Erzähler. Beim jähen Aufwachen in Lissabon fragt er sich, ob er tot ist oder ob er, wie der Träumer in Mihály Babits› Roman «Der Storchkalif», die Identität eines anderen einnimmt, ohne die ursprüngliche zu vergessen. Überhaupt, wer träumt hier wen? Der Amsterdamer den Lissabonner oder umgekehrt? — Getrennt sind die beiden durch zwanzig Jahre, so scheint es, der eine kehrt in die Vergangenheit des anderen zurück, und während der Erzähler von der «unerbittlichen» Zeit spricht, die stur und präzise voranschreite, unterläuft er diese Behauptung prompt, indem er den tiefen Graben der zwei Jahrzehnte mühelos überbrückt und die Zeiten mit den Worten «jetzt, genau wie damals» in eins fallen lässt. — Wie wir die Zeit erleben und uns darin, ist das große Thema des niederländischen Autors, hier und in zahllosen anderen Texten seines Riesenwerks. Es umfasst Reisereportagen und Romane, Gedichte und Essays, Reden und tagebuchartige Notizen, und nicht selten, etwa in seinen großen Aufzeichnungen aus dem Berlin der Wendezeit, gehen die Formen ineinander über. 2008 erschien zum 75. Geburtstag in seinem deutschen Verlag Suhrkamp eine Werkausgabe von insgesamt 6345 Seiten. Seitdem sind noch zwei schwere Bände dazugekommen, die Texte von 2008 bis 2021 umfassen und die Ausgabe um weitere 2050 Seiten ergänzen. Zudem hat der fleißige Autor jüngst das neue Buch «In den Bäumen blühen Steine» publiziert, das sich den Arbeiten des italienischen Künstlers Giuseppe Penone widmet und zugleich wiederum der eigenen Annäherung an Penones Skulpturen. (…) «Die Welt hatte mir noch alles mögliche zu erzählen, und das würde sie, wie es aussah, einstweilen auch weiter tun», sagt dieser Erzähler in einem weiteren Moment der gedehnten Zeit. Das klingt verheißungsvoll, auch für uns Leser. Heute feiert Cees Nooteboom seinen neunzigsten Geburtstag.

 
 

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