06.04.2023 – open: Multitrack – WDR 3 – Ilka Geyer — – Details
Kälte Atem
John Lennon wollte unbedingt, dass man in «Girl» sein Einatmen hört. Bevor Marylin Monroe das berühmte «Happy Birthday Mr. President» singt, atmet sie tief ein. Allein das bringt das Publikum schon zum Rasen. Und Kraftwerk montiert für «Tour de France» Atemsounds zu rhythmischer Anstrengung. – Wir atmen jederzeit. Aber genauso wie der Herzschlag meist unwillentlich und unbemerkt. In Songs werden Atemgeräusche gern leise gemacht, oft sogar komplett rausgefiltert. Aber Sounds, die beim Atmen entstehen, tragen eine ganz eigene und unmittelbare Semantik – jenseits von Worten. Und die wird von Musikerinnen und Musikern auch in Songs und tracks genutzt. John Lennon wollte bei den Aufnahmen zu «Girl» unbedingt, dass man hört, wenn er einatmet, um eine besondere Intimität zu erzeugen. Sexuelles Begehren ahoi! Norman Smith, der damalige Tontechniker, packte deswegen sogar noch zusätzlich einen besonderen Kompressor mit mehr Höhen auf Lennon›s Stimmspur. Sexuelle Semantik trägt auch das Atmen und Stöhnen der griechischen Schauspielerin Irene Papas, die sich auf dem Rücken des Slogans «I am, I am, I am to come, I was!» für Vangelis und seine Trio-Combo Aphrodites Child im Studio 39 Minuten in Richtung eines ultimativen kosmischen Orgasmus hochgeschraubt hat. Auf fast fünf Minuten gekürzt und begleitet von akzentuierenden Schlagzeug- und Percussionmotiven wurde daraus das Stück «∞», erschienen auf dem legendären (beware of the dark side of the hippie movement) Album «666». Als große Fans des Radsports war es für Ralf Hütter und Karl Bartos von Kraftwerk 1982 zum 80. Geburtstag der Tour de France nahezu unausweichlich, dieser Amarenakirsche ihres Lieblingssports ein Denkmal zu setzen. Voilà: Die Single «Tour de France». Mit einem Intro aus rhythmisierten Atemgeräuschen. Zum 100. Jubiläum 2003 wurde noch eins drauf gesetzt: Mit «Tour de France Soundtracks» erschien ein ganzes Album – inklusive einer neuen Einspielung von «Tour de France». Und dem im wesentlichen von Atemgeräusch-Spuren gertragenen und getriebenen track «Elektro Kardiogramm». — Ilka Geyer hat sich auf eine musikalische Suche nach dem sonst selten beachteten Atem gemacht und präsentiert aussagekräftige Atem-Musik.
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