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Warum der Westen Angst vor dem Sieg der Ukraine hat

21.03.2023NewsFrankfurter RundschauForeign Policy —   –  Details

Vasyl Cherepanyn

Zeitenwende? Eigentlich soll alles so bleiben, wie es ist: Der Kiewer Wissenschaftler hält Deutschland und EU in seinem Essay den Spiegel vor. — Der Westen hat im Grunde Angst vor einem Sieg der Ukraine – das ist die These von Vasyl Cherepanyn.

 

Er attestiert unter anderem der EU ein fragwürdiges Geschichtsbild und unterschwellig kolonialistische Denkweisen.

 

Cherepanyn, Leiter des Kiewer Forschungszentrums für visuelle Kultur, mahnt Europa und Deutschland in seinem Essay leidenschaftlich, sich im Ukraine-Konflikt selbst zu hinterfragen.

 

Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 21. Februar 2023 das Magazin Foreign Policy. — Am ersten Tag des totalen Krieges Russlands gegen die Ukraine traf der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) den damaligen ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk. Wie Melnyk später erzählte, lehnte Lindner es nicht nur einfach ab, die Ukraine mit Waffen zu beliefern oder Russland vom SWIFT-Zahlungssystem abzukoppeln, da der Ukraine nur noch «wenige Stunden» ihrer Souveränität blieben. Es sei auch deutlich geworden, dass sich Lindner darauf vorbereitete, die Zukunft einer von Russland besetzten Ukraine mit einer vom Kreml eingesetzten Marionettenregierung zu diskutieren. Das spiegelt eine allgemeine Haltung wider: Der Westen dachte damals, es wäre einfacher, wenn sich die Ukraine einfach ergibt. — Eine unbequeme Wahrheit über Russlands völkermörderischen Krieg gegen die Ukraine ist so offensichtlich, dass sie meist übersehen wird. Das Ganze wurde nicht nur möglich, weil es vom Angreifer geplant und durchgeführt, sondern auch, weil es von den Umstehenden zugelassen wurde. Der größte Schlag für die Demokratie auf globaler Ebene war nicht der Krieg selbst, sondern die Tatsache, dass – trotz aller «Nie wieder»-Behauptungen – die europäischen und westlichen Länder generell von vornherein einlenkten und akzeptierten, dass eine andere europäische Nation ihrer Souveränität, ihrer Freiheit und ihrer unabhängigen Institutionen beraubt werden und sich unter militärischer Besetzung wiederfinden könnte. (Hätten sie dies nicht so empfunden, hätten sie ihre Botschaften in Kiew nicht evakuiert). — Westen steht vor der Wahl – soll Osteuropa erst erneut zum Schlachtfeld werden? — Das richtige Verständnis von Zeit und Ort ist die Grundvoraussetzung für jedes angemessene politische Handeln. Gewalttätige Ereignisse wie Revolutionen oder Kriege sind besonders zeitabhängig – wenn man nicht rechtzeitig handelt, verschlechtert sich die Situation nur und wird noch gewalttätiger.

 

Da sich Europa leider bereits im Krieg befindet, wird der Westen unweigerlich entschlossener und direkter handeln müssen. Im Moment zieht Europa es vor, zu glauben, dass sich der Krieg in seiner jetzigen Form hinziehen wird, bei der es keine Bodentruppen von anderen westlichen Nationen gibt. Die eigentliche Wahl, vor der der Westen derzeit steht, lautet jedoch, entweder unverzüglich alle ihm zur Verfügung stehenden militärischen, politischen und wirtschaftlichen Mittel einzusetzen, um die russischen Aggressoren zu besiegen und die Grenzen der Ukraine wiederherzustellen, oder erst dann zu intervenieren, wenn sich diese Aggression anderswo ausgeweitet hat und Osteuropa erneut zum Schlachtfeld geworden ist. — Es ist eine Frage der Zeit. Und es ist in der Tat eine Hamlet‹sche Entscheidung. — «Die Zeit ist aus den Fugen. Weh mir zu denken, — dass ich geboren ward, sie einzurenken!»

Vasyl Cherepanyn ist der Leiter des Kiewer Forschungszentrums für visuelle Kultur, das die Kiewer Biennale organisiert.

 
 

SK-