01.04.2021 – Nachtmix: Die Musik von Morgen – Bayern 2 – Ralf Summer — – Details
Dry Cleaning
“Oster-Ruhe” im Pop? – nicht unbedingt. Trotz der Pandemie ist der weltweite Umsatz mit Musik auch 2020 weiter gestiegen: um 7 Prozent. Wachstumstreiber ist das Streaming mit +18 Prozent. Inzwischen haben über 440 Millionen Menschen ein Bezahl-Stream-Abo. Das heißt: über 60 Prozent des Umsatzes macht die Musikindustrie inzwischen auf digitale Art. Und streamen kann man ja auch zu Ostern. So hören wir in der Gründonnerstags-Ausgabe der “Musik Von Morgen”-Neuheiten – vorwiegend digital erscheinende Alben wi z.B. “Graz” von Nils Frahm. Der Hamburger Pianist hat es schon 2009 aufgenommen, veröffentlicht es aber erst jetzt. Der Titel verrät: es wurde in der österreichischen Stadt aufgenommen. Daniel Lanois, Edel-Producer von U2 bis Peter Gabriel, bringt mit “Heavy Sun” ein Gospel-Album. Und die Londoner Durchstarter Dry Cleaning ihr Debüt – und klingen dabei, als ob Kim Gordon freie Gedichte mit einer Rock-Band vertonen würde: assoziativ, ohne Refrains, aber beeindruckend. Dazu hören wir den “Bills, Aches & Blues Sampler” zu 40 Jahre 4AD Records (Pixies, Breeders, Aldous Harding), Flock Of Dimes, Gary Barts / Adrian Younge / Ali Shaheed Muhammad, Godspeed You Black Emperor, Facta … und eine britische Shoegaze-Legende überrascht ihre Fans mit ihrem Backkatalog, der nun erstmals digital in den Streamingdiensten eingespeist wird. Also: von wegen “Osterruhe”. Wow! Als ob Kim Gordon ein Spoken Word Album aufgenommen hätte! Spoken Word Rock könnte man den Stil der britischen Band nennen. Oder Rock-Not-Rock. Was in erster Linie an der Performance von Florence Shaw liegt, die am Mikro steht. Aber spricht, nicht singt. Und sich damit in die Tradition der Gesanx-Verweigerer einreiht. Der englische Guardian berichtet gar, dass „Sprechgesang“ gerade en vogue sei: neben Dry Cleaning würden auch Billy Nomates, Black Country New Road, Talk Show und Sinead O´Brien diese „poetry reading“-Technik anwenden. Und in der Tradition von Bands stehen, die alle dem Post-Punk zugerechnet werden können: Patti Smith, Mark E Smith (The Fall) oder John Lydon (Pistols / PIL), die – so der Guardian – auch schon „Sprechgesang“ benutzt hätten. Florence Shaw sagt: „wenn du deine Lyrics sprechend vorträgst, dann ist das so, als ob du deine Texte darstellst, schauspielerst. Es ist subtiler und die Worte kriechen stärker in die Ohren des Publikums.“ Was aber auch der Tatsache geschuldet sein kann, dass diese Bands noch am Anfang ihrere Karriere stehen und bisher nur in kleinen Läden spielten, in denen man jedes Wort verstand. In größeren Hallen versteht man eine Singstimme sicher besser als eine Sprechstimme. Kann also sein, dass Dry Cleaning nur solange funktionieren, solange sie „klein“ bleiben. Bei Florence Shaw liegt es daran, dass sie zu schüchtern war, den Mund aufzureissen, da sie nie gesungen hat, bevor sie die drei Jungs kennenlernte, die sie an Bord zu Dry Cleaning holten. Sie singt, pardon, spricht von Neurosen und seltsamen YouTube-Kommentaren. Es geht ihr um das pure Wort und nicht um schön gesungenen Wordsound. Lustig, wie der Begriff „Sprechgesang“ gerade in der UK-Presse Karriere macht. (8,0 von 10 Punkten)
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